Lesung in der Stadtbücherei:Die Hilflosigkeit einer Helferin

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Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller. (Foto: Toni Heigl)

In ihrem Roman "Drehtür" erzählt die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller aus ihrem Leben als Krankenschwester. Mit zynisch-tragischem Humor rührt sie ihr Publikum auf dem Literaturfest in Dachau zu Tränen

Von Christiane Bracht, Dachau

Ist Helfen immer gut? Unwillkürlich will man mit "Ja" antworten. Katja Lange-Müller indes zögert. Die Berliner Autorin kennt sich aus mit dem Helfen. Jahrelang hat sie als Pflegerin und Krankenschwester gearbeitet, erst auf der gerontopsychiatrischen Station in der Charité und später in der forensischen Psychiatrie der Karl Bonhoeffer Nervenklinik. "Ich habe schon viel Ambivalentes erlebt", sagt sie am Donnerstag in der Stadtbücherei, als Thomas Kraft, der Organisator von "Dachau liest", sie fragt. Und das spiegelt sich auch in ihrem neuesten Roman "Drehtür" wider.

Das Helfen - es ist ihr Thema. Und es hat sie auch zum Schreiben gebracht. "Nach zehn Nachtwachen auf der Geropsychiatrie (so hieß das damals im Osten) habe ich mich in ein Lokal gesetzt, das Wein ABC, eine Flasche bestellt und angefangen zu schreiben - es war so halb süßer ungarischer Wein", erzählt Lange-Müller. Durch die Reihen geht ein Raunen, dem Dachauer Publikum gruselt allein bei der Beschreibung. "Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet", erzählt die 65-Jährige weiter. In der Nacht zuvor war eine alte Dame gestorben, die lange auf ihrer Station lebte. Ihr Tod hatte Lange-Müller tief berührt. "Da habe ich gemerkt, dass Schreiben autotherapeutische Wirkung haben kann", sagt sie und lacht.

Immer freilich funktioniere es nicht. "Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich Krankenschwester geblieben wäre?" Vielleicht das gleiche, wie aus Asta Arnold, der Heldin ihres neuen Romans? Allein diese Bemerkung lässt das Publikum nichts Gutes vermuten für die Krankenschwester aus dem Roman. Lange-Müller spricht etwas schnodderig, frei von der Leber weg immer im Berliner Dialekt, ganz direkt ohne Umschweife, so wie es ihre Art ist. Die Dachauer zieht sie schnell in ihren Bann.

One-Way-Ticket zurück in die Heimat

Und so ist auch ihr Roman, eingeteilt in viele kleine Episoden, an die sich Asta Arnold erinnert. Sie steht an der Drehtür des Münchner Flughafens, 22 Jahre war sie als Krankenschwester in Nicaragua tätig, hat anderen geholfen. Irgendwann fing sie an Fehler zu machen. Die Kollegen begannen sie zu mobben, bis sie das Sprechen verweigerte, schließlich kauften die Kollegen ihr ein One-Way-Ticket zurück in die Heimat. Doch die war ihr fremd. Und so steht Asta in der Drehtür, raucht, weiß nicht wie es weiter geht. Die Helferin fühlt sich völlig hilflos. Sie beobachtet die Menschen die vorübereilen, manche erinnern sie an Vergangenes. Die Bilder schieben sich über die Realität und so lässt sie ihr Leben Revue passieren.

Da ist zum Beispiel die Sommernacht 1967, als Asta völlig betrunken auf dem Heimweg einen wimmernden, jaulenden Koch entdeckt, der heulend mit einer dicken Wange in einem Hauseingang sitzt und furchtbare Zahnschmerzen hat. Die Krankenschwester nimmt ihn mit nach Hause, gibt ihm Tabletten und eine Flasche Doppelkorn. Das lindert die Schmerzen. Doch die vorsichtige Annäherung zwischen ihm und ihr bricht schnell ab. Asta fragt sich: "War ich wirklich auf Sex mit dieser flüchtigen Bekanntschaft aus gewesen?" - "einen Quickie, ein paar Küsschen, na wenigstens einen dankbar-bewundernden Blick?"

Manchmal bleibt ein komisches Gefühl

Facettenreich schildert Lange-Müller in ihren Erzählungen die vielen Formen und Beweggründe des Helfens. Mal melancholisch-depressiv, dann wieder mit viel Humor, immer sehr einfühlsam und direkt. Es gibt sehr überraschende Wendungen und Reaktionen. Manchmal bleibt ein komisches Gefühl, ein fader Nachgeschmack. Ein anderes Mal lacht man sich schlapp und denkt zugleich: "Oh, Gott, die Arme." Das Helfen - es ist nicht immer gut. Das merkt der Zuhörer schnell, der Leser natürlich auch. Es gibt so viele Motive und auch Abgründe, die sich hinter den helfenden Händen verbergen. Lange-Müller kennt sie alle. Man ist irgendwie entsetzt und fasziniert zugleich. Die Berlinerin karikiert sie nur, stellt Fragen. Man kommt unwillkürlich ins Grübeln. So kenntnisreich hat die Seite der Helfenden literarisch noch nie jemand beleuchtet. "Die, die Hilfe leisten, sind bislang weniger beachtet worden - außer vielleicht in den Heftromanen, bei denen die Krankenschwester am Ende den Arzt küsst", sagt die Autorin.

Ihr Humor ist fast schon zynisch. "Es ist die Kehrseite der Tragik", sagt sie trocken. Da ist zum Beispiel die Geschichte von der "schielenden Heiligen", namens Stella, die die Dachauer fast zu Tränen rührt. Eine Novizin, die am Ende ihrer Nachtwache auf die glorreiche Idee kommt, die Gebisse der greisen Vinzentinerinnen, die noch friedlich schlummern, mal gründlich zu reinigen. Sie geht von Nachttisch zu Nachttisch, sammelt alle in einer großen Blechschüssel und beginnt zu schrubben. Als die "zurückhaltende, grundgütige Schwester Maria Augusta" ihr plötzlich von hinten auf die Schulter tippt, und sie tonlos fragt, ob sie verrückt sei, erschrickt Stella so sehr, dass die Blechschüssel herunterfällt und alle Gebisse verstreut unten auf dem Boden liegen.

Das Publikum lacht laut. Es ist wie ein Slapstick, dem sich keiner entziehen kann. Besonders als die Erzählung weitergeht: "Viele Male baten wir eine nach der anderen, doch bitte den Mund zu öffnen, uns probieren zu lassen, ob diese oder jene der knapp hundert Ober- und Unterzahnprothesen möglicherweise die seien, die ihr gehört hatten, ehe der Putzteufel in mich fuhr." Doch die Strafe der Schwestern für die arme Stella ist ebenfalls herzzerreißend: Keine sprach je wieder mit ihr. Und das ist die Fallhöhe, die den Zuhörer und den Leser nachdenklich stimmt. Es ist die Unversöhnlichkeit, die bei ihm Magengrimmen verursacht.

Und so verwundert es nicht, dass der Anlass, dieses Buch zu schreiben, ein immer wiederkehrender Albtraum war. "Ich träumte, dass ich dringend auf die Station muss, aber ich kam nie hin", erzählt Lange-Müller den Dachauern. "Da habe ich gemerkt, ich bin mit der Geschichte noch nicht fertig." Heute freut es sie, dass sie von den Helfern zur Lesung eingeladen wird. Die Dachauer bedankten sich sogar.

Günther Maria Halmer liest am Samstag, 7. Oktober, um 20 Uhr im Ludwig-Thoma-Haus aus dem Buch "Fliegen kann jeder"; Eva Gruberová und Helmut Zeller stellen am Sonntag, 8. Oktober, um 18 Uhr in der Stadtbücherei ihr neues Werk "Taxi am Shabbat" vor.

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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