Konzertkritik:Hypnotisch

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Oscar Noriega (Klarinette) und Tim Berne am Altsaxofon sind gemeinsam mit dem Schlagzeuger Ches Smith Teil des Ensembles "Snakeoil". (Foto: Toni Heigl)

Das Ensemble Snakeoil des Saxofonisten Tim Berne beendet die Frühjahrsreihe des Dachauer Jazzvereins in der Kulturschranne. Jedes Stück des Quintetts ist ein wirkungsvolles Gesamtkunstwerk mit teils intimer Zwiesprache zwischen den Musikern

Von Andreas Pernpeintner, Dachau

Während man an diesem wunderschönen Samstagabend durch die Altstadt zur Kulturschranne hinaufspaziert, ahnt man nichts Gutes. Vor allen Lokalen sitzen die Leute im Freien, genießen. Wer soll sich da zum Jazz e.V. in die Schranne hocken? Doch, siehe da: Es sind viele, die zum Konzert von Tim Berne Snakeoil gekommen sind, das die diesjährige Frühjahrsreihe beschließt. Zu Recht, denn das Konzert ist spannend. Das liegt an den Kompositionen, das liegt an der Besetzung dieses Ensembles - und insbesondere daran, wie die Musiker ihre jeweilige Rolle im Gesamtgefüge interpretieren.

Den regelmäßigen Jazz e.V.-Besucher kann eine Besetzung aus Altsaxofon (Tim Berne), Klarinette (Oscar Noriega), Gitarre (Ryan Ferreira), Klavier (Matt Mitchell) sowie Schlagzeug und Percussion (Ches Smith) an sich nicht überraschen. Diese Besetzung ist beinahe klassisch, allenfalls das Fehlen eines Bassinstruments mag zunächst auffallen. Die meiste Zeit übernehmen die beiden Bläser die Führung. Sie exponieren die Themen, sie leiten die jeweiligen Improvisationsteile ein, sie initiieren dynamische Verdichtung und Beruhigung, sie präsentieren vom leisen, obertonreichen Hauch bis zum heftigen Kreischen eine enorme Vielfalt der Instrumentenklangfarben.

Das ist - perfekt dargeboten - nichts Ungewöhnliches. Spannend aber ist, welche Art Fundament die Rhythmusgruppe dazu liefert. Denn der klassische Begriff der Rhythmusgruppe greift bei Tim Berne Snakeoil zu kurz: Keine Frage, manchmal ist es tatsächlich ein beherzt treibender Groove, den Ferreira, Mitchell und Smith erzeugen. Traditionelle Rhythmusgruppenarbeit also, bestehend aus einem Schlagzeug-Beat, aus kraftvoll ostinaten Klavierfiguren und aus im Sound fast brachial verzerrten, dabei sehr leise gespielten Riffs der Gitarre. (Nebenbei bemerkt: Ferreiras an sich widersprüchliche Kombination aus brachial und leise ist eines der erstaunlichen Momente dieser Darbietung.)

Meistens aber hat der Sound der Rhythmusgruppe nichts mit einer klassisch voranschreitenden Begleitung zu tun, vielmehr mit einer subtilen Farbgrundierung. Natürlich passt diese zu dem, was die beiden Bläser im Vordergrund spielen. Zugleich aber weist sie eine eigenständige, feingliedrige Binnenstruktur auf, in der viele kleine und kleinste Klangereignisse zusammenwirken. Etwa, wenn Mitchell in Lichtgeschwindigkeit am Klavier dahinwuselt und hell hervorleuchtende Akkorde einstreut, wenn Smith vom Drumset ans Vibrafon wechselt, singende Intervalle oder metallisch brillante Linien durch den Raum schweben lässt, und wenn Ferreira mit seiner Gitarre dezent und hintergründig sphärische Düfte beimischt. So entsteht eine herrlich dichte, um sich kreisende Klangatmosphäre.

Damit soll nun nicht gesagt sein, dass die Bläser und die übrigen Musiker zwar in der Grundstimmung aufeinander Bezug nähmen, ansonsten aber losgelöst voneinander agierten. Gar nicht. Vielmehr sind die musikalischen Schichten in vielen Bezugspunkten ineinander verzahnt: zum Beispiel, wenn Saxofon und Klavier in intimer Zwiesprache zueinander finden. Aus dieser beeindruckenden Komplexität ergeben sich viele Möglichkeiten, musikalisch substanzielle Aussagen zu treffen. Und auf deren Basis wiederum entstehen Kompositionen von enormer Ausdehnung. Oft beginnen sie kammermusikalisch mit einem präzise koordinierten Bläserthema; oft schließen sie auch damit, schlicht, leise, unprätentiös.

Dazwischen aber gibt es eine Fülle an Ausdrucksformen. Klangliche Ballung und Ausdünnung, sprödes, rhythmisch verqueres Staccato, als habe Prokofjew diesen Jazz komponiert, schillernde Klangkollagen, Improvisation in abwechselnden Instrumentenkombinationen, kräftige, weit ausgedehnte Crescendi, die in hypnotische Melodien oder in monumentales Unisono münden. Meistens glückt die Dramaturgie. Jedes Stück ist auf diese Weise ein wirkungsvolles Gesamtkunstwerk.

Die Frühjahrsreihe des Jazz e.V. brachte folgende Ensembles nach Dachau: Rubacell, Soleil Bantu, ScottDubois-Quartett, St. Øhl-Trio und Tim Berne Snake Oil. Das Programm für den Internationalen Jazzherbst steht in Grundzügen fest. Jetzt folgt aber erst noch der Kassensturz. Als sicher gilt, dass Gitarrist Marc Ribot kommen wird. Damit einer großen Figuren von Jazz und Rock, der mit Sängern wie Tom Waits auftritt und über ein eigenes Avantgarde-Trio verfügt.

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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