Pogromnacht:"Wir müssen einander kennenlernen"

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Der Holocaust-Überlebende Shraga Milstein reist aus Israel an, um als Zeitzeuge auf der Gedenkfeier zum Novemberpogrom von 1938 zu sprechen. Seit Jahren unterstützt er die Erinnerungspolitik Dachaus

Interview von Helmut Zeller

Seit dem Besuch des damaligen Dachauer Oberbürgermeisters Peter Bürgel (CSU) in Massuah im Jahr 2011 besteht eine Verbindung zu Shraga Milstein, der bis 2013, acht Jahre lang, das Institut für Holocaust-Studien bei Netanya leitete. Shraga Milstein war davor Lehrer, Schulleiter und von 1983 bis 1998 Bürgermeister der Stadt Kfar Shmaryahu. Er stammt aus Polen, seine Eltern wurden im Holocaust ermordet. Er überlebte als Zwölfjähriger. Der Zeitzeuge spricht auf der Gedenkfeier zum Novemberpogrom am 9. November 1938. Der Auftritt am Sonntag, 8. November, um 19 Uhr im Rathausfoyer fällt ihm nicht leicht. Er muss sich schrecklichen Erinnerungen aussetzen, macht das aber, weil er die Geschichtspolitik Dachaus unterstützen will.

Herr Milstein, Sie waren bereits einmal in Dachau. Welche Eindrücke sind Ihnen in Erinnerung?

Shraga Milstein: Dachau ist eine nette Stadt mit historischen Gebäuden, Museen und schöner Natur in der Umgebung. Die Menschen sind freundlich, aufgeschlossen und in ihrem alltäglichen Leben sehr beschäftigt.

Was erwarten Sie von diesem Besuch?

Diesmal ist der Besuch Ihrer Stadt sehr bewegend für mich. Ich wurde im Konzentrationslager Bergen-Belsen 1945 befreit. Ich war damals zwölf Jahre alt. Mein Auftritt bei der Gedenkfeier für die Opfer des Novemberpogroms erweckt die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit. Erinnerungen, über die ich an und für sich nicht gerne spreche.

Sie unterstützen seit Jahren schon die Stadt Dachau in ihren Bemühungen um eine israelische Partnerstadt?

Wir leben zu einem großen Maß in einer globalen Welt. Der beste Weg, gegen Hass und Vorurteile anzukämpfen, ist es, andere Menschen zu treffen und ihre Lebensweise zu verstehen. Man muss begreifen, wie andere fühlen und denken. Wir müssen einander kennenlernen. Austausch besonders zwischen jungen Menschen aber auch Meinungsführern verschiedener Länder ist deshalb sehr wichtig.

Und Dachau?

Das gilt genauso für Dachau. Deshalb engagiere ich mich in dieser Frage gerne. Ich werde auch ein Gespräch mit Oberbürgermeister Florian Hartmann führen. Eine Partnerschaft zwischen Dachau und einer israelischen Stadt wird ein Thema sein.

Erschrecken Sie die Umfrageergebnisse, wonach jeder vierte Deutsche antisemitische Einstellungen hegt? Überhaupt nehmen antijüdische Strömungen in fast ganz Europa zu?

Ich bin mit den gängigen Ansichten in der deutschen Bevölkerung und allgemein in Europa nicht vertraut. Nach meinem Eindruck existiert eine Mischung aus altem Antisemitismus und Vorbehalten gegenüber der Politik Israels. Zionismus und die Errichtung des Staates Israel waren eine dramatische Wende in der jüdischen Geschichte. Israel ist heute ein gleichberechtigter Staat. Ich erwarte nicht, dass alle uns lieben, weil es auch Israelis gibt, die andere Menschen hassen.

In der öffentlichen Meinung wächst die Kritik an der Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern. Denken Sie, darin wirkt der Antisemitismus?

Sie wissen vielleicht, dass die Politik unsere derzeitigen Regierung in Israel hitzig diskutiert wird. Nach den israelischen Parlamentswahlen im März haben wir in der Knesset 120 Mitglieder. 61 unterstützen die Regierung und 59 bilden die Opposition. Das ist Demokratie und wir müssen damit leben. Ich denke nicht, dass die antijüdische Stimmung in Europa eine Bedrohung für Israel ist. Es ist natürlich viel besser, geliebt zu werden. Aber Liebe ist nicht der einzige Inhalt zwischen den Staaten und Nationen.

In Israel wird mit großer Aufmerksamkeit die Fluchtbewegung aus Kriegsgebieten nach Deutschland und Europa verfolgt. Denken Sie, dass diese Migrationsbewegungen Europa verändern, der politische Streit über die Flüchtlinge die EU in ihrem Bestand gefährden wird?

Ich bin nicht vertraut genug mit den aktuellen Trends und Bewegungen in Europa, um Vorhersagen zu treffen. Aber ich denke, dass Europa und der Westen die grundlegenden Freiheitsgedanken, Gleichberechtigung und Demokratie teilen. Ich vertraue darauf, dass sich dies nicht ändert.

Sie waren Bürgermeister der Stadt Kfar Shmaryahu. Sie wurde 1937 von deutsch-jüdischen Familien als Dorf gegründet, die aus Nazideutschland geflohen waren. Wie stehen diese Israelis und ihre Nachkommen heute zu Deutschland?

Ich kann nicht verallgemeinern. In den jüngeren Generation gibt es viele, die nicht nach Deutschland reisen, aber es gibt genauso viele, die sich hier Zuhause fühlen und sogar Deutsch am Goethe-Institut in Tel Aviv studieren. Im Großen und Ganzen ist es eine Mischung aus verschiedenen Individuen mit all ihren Unterschieden.

Der 82-jährige Israeli Shraga Milstein ist zum zweiten Mal in Dachau zu Gast. Er wird auch mit Schülern des Taschner-Gymnasiums sprechen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Was bedeutet es für Sie persönlich, nach Dachau zu reisen, und in der Stadt des ehemaligen Konzentrationslagers über Ihre Holocaust-Erfahrung zu sprechen?

Ich finde es schwierig, über meine Vergangenheit zu sprechen, aber es ist sehr wichtig, über die Gräueltaten des Nazi-Regimes während des Holocausts zu sprechen. Die Tatsache, dass die Stadt Dachau 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg an die Pogromnacht im Jahr 1938 erinnert, ist für mich ein guter Grund, mich der psychischen Belastung zu stellen und an die Vergangenheit zu erinnern.

Das Massuah-Institut, das Sie viele Jahre geleitet haben, hat Beziehungen zur Stadt Dachau aufgebaut. Sie hatten mit dem früheren Oberbürgermeister Peter Bürgel (CSU) bereits eine Kooperation vereinbart. Möchten Sie diese Beziehung zu Dachau wieder aufleben lassen und stärken?

Generell sage ich ja. Ich glaube, wenn man sich mit dem Holocaust beschäftigt, ist dies der beste Weg, dass sich dies nicht mehr wiederholt.

Das wäre dann die Voraussetzung für jede Beziehung zwischen Israel und der Stadt Dachau?

Ja, so sehe ich das. Und es geschieht ja heute in dieser Hinsicht einiges in Dachau. Ich hatte 2013 auch das Dachauer Zeitgeschichtssymposium besucht, natürlich auch die KZ-Gedenkstätte, die das Zentrum der Erinnerung an die Naziverbrechen und den Holocaust ist. Ich freue mich über das Interesse der Stadtpolitik an einer Auseinandersetzung mit der Geschichte. Der frühere Oberbürgermeister hat vieles auf den Weg gebracht, und sein Nachfolger, Herr Hartmann, geht diesen Weg weiter. Ich werde mit ihm auch den Zeitgeschichtsreferenten Günter Heinritz treffen.

Sie gehen auch in eine Schule?

Ja, am Montag besuche ich Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums in Dachau für ein Zeitzeugengespräch. Das mache ich sehr gerne. Denn, wie gesagt, über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lernen wir uns besser kennen und schaffen eine Voraussetzung, gute Beziehungen für die Zukunft aufzubauen. Daran wirke ich gerne mit. Ich bin schon gespannt, wie die Schüler auf meine Erzählung reagieren und freue mich auf die Diskussion mit ihnen.

Sie stammen aus Polen, haben sie jemals nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimatstadt wieder besucht?

Ja, ich war in Polen und in der Stadt, in der ich geboren wurde. Seit 1989 entwickelt sich Polen in einen modernen westlichen Staat innerhalb der Europäischen Union. Es gibt eine kleine jüdische Gemeinde in Polen, aber sie wird niemals so groß sein wie früher. 3,5 Millionen Juden lebten 1939 in Polen. Zehn Prozent der Bevölkerung waren Juden. Ein großer Faktor in der Wirtschaft und Kultur des Landes. All dies wurde zerstört und wird nicht wieder aufleben.

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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