Indersdorfer Fotoausstellung:Kinderstube Israels

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In Tel Aviv wird an diesem Sonntag eine Ausstellung über das Kinderzentrum Indersdorf eröffnet. Darin wird erstmals beleuchtet, wie sich eine Kibbuz-Bewegung der jungen Überlebenden annahm - und auf die Gründung eines jüdischen Staates vorbereitete.

Von Gregor Schiegl, Markt Indersdorf / Tel Aviv

Nach dem Sturz des NS-Regimes wurde das Kloster Indersdorf von der UNRRA, einer Vorläuferorganisation des heutigen Flüchtlingshilfswerks der UN, als internationales Kinderzentrum für mehr als tausend Kinder und Jugendliche herangezogen, die ihre Eltern im Holocaust verloren hatten. Dieses bewegende Kapitel hat der Heimatverein Indersdorf unter der Ägide von Anna Andlauer bereits in einer umfangreichen Ausstellung aufgearbeitet, die um die halbe Welt ging, auch am UN-Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York war sie schon zu sehen. In Tel Aviv wird an diesem Sonntag eine weitere Fotoausstellung des Heimatvereins eröffnet, wieder geht es um das Kinderzentrum - "HaChaim SheAchare", auf deutsch "Das Leben danach" heißt die Ausstellung - doch diesmal steht die spätere Phase von August 1946 bis September 1948 mit im Fokus, die bislang erstaunlich wenig Beachtung erfahren hat. "Das ist ein spannendes Kapitel, das aber erst jetzt richtig beginnt, auch in Israel", sagt Kuratorin Andlauer.

Neuen Lebensmut flößte den Kindern auch der junge Gruppenleiter Zalman Ackerman ein, auf dem Bild (links) mit Benjamin Anolik bei der Abfahrt auf einem extrem flachen Hang im verschneiten Hof des Klosterareals. Ackerman hatte im von den Nazis besetzten Warschau selbst entsetzliche Dinge erlebt. (Foto: oh)

Der jüdische Staat existierte damals noch nicht, durch den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden erhielt die Idee aber starken Auftrieb, vor allem in Osteuropa. In Polen und Ungarn sammelte die zionistische Kibbuzbewegung überlebende jüdischen Kinder, um sie für den Aufbau des gelobten neuen Lands, für "Erez Israel", zu gewinnen - und schleuste sie erst mal ins jüdische Kinderzentrum Kloster Indersdorf ein, ausgerechnet ins Land der Täter, kaum ein Jahr nach dem ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen der Schoah. "Das ist ja das Verrückte!", sagt Andlauer.

Greta Fischer, die später als Sozialarbeiterin nach Israel ging, war in der ersten Phase nach dem Krieg eine wichtige Bezugsperson für die meist schwer traumatisierten Kinder. (Foto: oh)

"Viele Überlebende erzählen, sie hätten als Kinder keinerlei Vorstellung davon gehabt, was das überhaupt sein soll: Palästina." Manche wussten nicht einmal, dass es noch andere Juden außer ihnen gibt. Einem Mädchen, das bei einer deutschen Bauernfamilie schuften musste, sei weisgemacht worden, sie wäre die letzte Jüdin auf der Welt, berichtet Andlauer. Als wäre das, unbeschreibliche Grauen, das die Kinder und Jugendlichen in deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslagern oder in ihren Verstecken erlebt hatten, nicht schon schlimm genug gewesen. Nach ihrer Befreiung standen die meisten schwer traumatisiert und völlig allein da. Auch 70 Jahre später ist für sie der Schmerz über den Verlust von Eltern und Geschwistern nicht überwunden. "Der Holocaust war nie therapierbar", sagt Anna Andlauer.

In Indersdorf konnten die Jugendlichen wieder ein Leben als normale Teenager führen. (Foto: oh)

Für das Leben und das Überleben war das Kinderzentrum von zentraler Bedeutung, auch als die zionistisch-sozialistische Jugendbewegung Dror dort das Ruder übernahm. "Die Kinder haben nach vorne geschaut - mit dem Ziel, ein neues Land zu schaffen, in dem sie hofften, sicher leben zu können", erklärt Anna Andlauer. Über die Vergangenheit wurde kaum gesprochen, präsent blieben die Schatten der Vergangenheit dennoch immer: "Die Kinder haben oft nachts geweint."

Heimatforscherin und Kuratorin Anna Andlauer. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Halt und Kraft fanden sie bei den jungen Freiwilligen von Dror, die sich um die Kleinen kümmerten. Diese sogenannten Madrichim waren oft nur wenig älter als die Kinder selbst, auch sie hatten Angehörige im Holocaust verloren. Einer von ihn lebt heute noch, Zalman Ackerman, 93 Jahre alt. Der schmächtige aber mit einem Löwenmut gesegnete Mann war am Aufstand im Warschauer Ghetto beteiligt. Einen Großteil der Fotos für ihre Ausstellung, etwa 500 Stück, hat Anna Andlauer auch aus dem Bestand des Hauses der Ghettokämpfer.

Zalman Ackerman war eine wichtige Figur: Wenn die Rede auf ihn kommt, leuchten die Augen der Kinderüberlebenden aus Indersdorf heute noch. Ackerman wusste sie zu trösten und ihnen neuen Lebensmut einzuflößen. Andlauer berichtet von einer Anekdote, wie ein Kind verzweifelt bereits all seine Sachen aus dem Fenster warf, um dann hinterher zu springen. Ackerman, damals Mitte 20, pflegte immer einen Hut zu tragen. Den versprach er dem Kind als Lohn, wenn es sich beruhige. Zalman Ackerman verlor bei diesem Deal seinen Hut, aber das Kind behielt sein Leben. Viele Jugendliche aus Indersdorf reisten später auf dem legendären umgebauten Flussdampfer "Exodus" Richtung Palästina, der von der britischen Marine aufgebracht wurde. Das gewaltsame Vorgehen gegen die Holocaust-Überlebenden löste international Empörung aus, was schließlich mit dazu beitrug, dass die Briten ihren Widerstand gegen einen jüdischen Staat in Palästina aufgaben.

Für Anna Andlauer stehen die beiden Ansätze, des ersten, internationalen Kinderzentrums, in dem Persönlichkeiten wie Greta Fischer ein Gefühl familiärer Geborgenheit vermittelten, und des zweiten, des jüdischen Kinderzentrums, in dem alles nach sozialistischem Ideal miteinander geteilt wurde, gleichwertig nebeneinander wie die zwei charakteristischen Türme des Klosters Inderdorf. Sie stehen für sie beide als Symbole für die historischen Versuche, den damals jüngsten Opfern des Nationalsozialismus zu helfen, die Überreste ihrer zerstörten Existenzen wieder zu sammeln und ihnen zu helfen, zurück ins Leben zu finden.

Der Ausstellungseröffnung in der Universität von Tel Aviv wollen mehr als ein Dutzend Überlebender an diesem Sonntag, 20. Januar, um 18 Uhr persönlich beiwohnen. Viele zeigen sich glücklich, dass dieser Teil ihrer Lebensgeschichte nun endlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Nach Tel Aviv wird die Ausstellung an fünf weiteren Orten in Israel zu sehen sein, zum Abschluss im Januar 2020 im Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem, pünktlich zum 110. Geburtstag von Greta Fischer. Bis die bislang nur in hebräischer Fassung existierende Ausstellung auch im Landkreis Dachau gezeigt wird, wird es wohl noch dauern. Wer sie sehen will, muss nach Israel reisen. Förderer Landrat Stefan Löwl ist bereits mit einer Delegation aus dem Landkreis unterwegs dorthin.

© SZ vom 19.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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