Gedenkfeier:Aufstehen gegen Intoleranz und Fremdenhass

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Etwa 100 Menschen laufen über die Lagerstraße des ehemaligen KZ Dachau. Sie wollen Kränze niederlegen und an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. (Foto: Toni Heigl)

Bei der Gedenkfeier der DGB-Jugend fordert Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, angesichts des Rechtsrucks im Land mehr Zivilcourage.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Vor dem sogenannten Verbrennungsraum des ehemaligen KZ Dachau, wo die Nazis in jedem der vier Öfen drei Menschen gleichzeitig einäscherten, versagt Charlotte Knobloch die Stimme. Der Herbstnachmittag graut. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München spricht vor etwa 100 Zuhörern über ihren Vater. Sie erzählt, wie sie mit ihm diese "schreckliche Nacht der Zerstörung" erlebte, wie der Mob tobte und Fensterscheiben jüdischer Geschäfte einwarf. Im November 1938 war sie sechs Jahre alt. Als kleines Mädchen sei sie vor den rauchenden Trümmern der Synagoge in München gestanden und habe geweint.

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, als die Nazis begannen, Juden in Deutschland und Europa systematisch zu vernichten, jährt sich heuer zum 80. Mal. Anlässlich dessen hat die Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) am Sonntag in der KZ-Gedenkstätte Dachau an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Etwa 100 Menschen, darunter auch einige Bundes- und Landespolitiker, sind gekommen. Gemeinsam laufen sie über den Appellplatz die Lagerstraße entlang. Am Denkmal des "unbekannten Häftlings" am Krematorium legen sie Rosen und Kränze nieder.

Charlotte Knobloch hält eine bemerkenswerte Rede

Knobloch hält eine bemerkenswerte Rede. Sie fordert angesichts des Rechtsrucks in Deutschland zur Zivilcourage auf. Sie sagt, trotz allem sei ihr Vater nach 1945 in München geblieben. "Seinen Optimismus hat mein Vater an mich weitergeben." Jetzt muss sie schlucken. Das sprechen fällt ihr schwer. "Am Ende bin auch ich geblieben", sagt sie. Sie hoffe, dass die Menschen in diesem Land Demokratie und Freiheit zu schätzen wüssten. "Schauen Sie nicht weg, sondern hin, wenn Menschen ausgegrenzt und diffamiert werden."

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, fordert bei der Gedenkfeier der DGB-Jugend zu Zivilcourage auf. (Foto: Toni Heigl)

Im Zuge der Reichspogromnacht sperrten die Nazis 11 000 Juden in das KZ. Insgesamt brachten sie in Dachau etwa 41 500 Menschen um. An diesem Nachmittag der Jetztzeit will die Gewerkschaftsjugend, die zum 66. Mal die Gedenkfeier organisiert hat, ein Zeichen setzen, "dass Erinnerungsarbeit untrennbar mit der moralischen und politischen Verpflichtung für aktives demokratisches Eingreifen in die heutigen Verhältnisse verbunden ist". Das diesjährige Motto der Veranstaltung lautet: "Erinnern heißt kämpfen."

Der Bezirksjugendsekretär der DGB-Jugend fordert eine klare Abgrenzung zur AfD

Der Bezirksjugendsekretär der DGB-Jugend in Bayern, Andro Scholl, steht vor dem Internationalen Mahnmal am Appellplatz. Für ihn ist klar, wer die Gegner der Erinnerung an diese dunkle Vergangenheit sind. In seiner Begrüßungsrede sagt er, die AfD reiße Tabus ein. "Antisemitische, faschistische und rassistische Positionen werden von AfD-Funktionären offen vertreten." Er bemerke "eine Gewöhnung an die Verrohung der Sprache und der politischen Auseinandersetzung". Die Parteien im Bayerischen Landtag fordert Scholl auf: "Lasst euch nicht von der AfD treiben. Keine Zusammenarbeit, keine Normalisierung der AfD." An diesem Montag kommt der neue Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die AfD ist nach den Grünen die stärkste Oppositionspartei.

"Erinnern heißt nie vergessen", sagt Katharina Schulze, die Grünen-Fraktionschefin im Landtag. (Foto: Toni Heigl)

Nach Scholls Rede läuft man die Lagerstraße entlang. Katharina Schulze bildet zusammen mit anderen die Spitze des Gedenkzuges. Im Namen der Fraktion der Grünen im Landtag, deren Chefin sie ist, legt sie später einen Kranz nieder. "Erinnern heißt nie vergessen", sagt sie der Dachauer SZ. Der Jahrestag der Reichspogromnacht sei für sie ein "Handlungsauftrag für alle anderen 364 Tage im Jahr". Das gelte sowohl im Parlament als auch in der Zivilgesellschaft.

Charlotte Knobloch fodert, die Erinnerung wachzuhalten

Ähnlich sieht das der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi, der unweit neben Schulze geht und eine rote Rose in den Händen hält. Man müsse das Gedenken an die Opfer und die Gräuel des Nationalsozialismus am Leben erhalten, "damit es nie wieder möglich wird", sagt er. Das gelte insbesondere jetzt, da die AfD rechtes Gedankengut "wieder salonfähig" gemacht habe.

Am Krematorium hören sie wenig später Charlotte Knobloch zu. Auch die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München findet deutliche Worte gegenüber der AfD: "Wir erleben mit dem Aufstieg dieser Partei auch eine Wiederkehr von Fremdenhass, Intoleranz und Antisemitismus in einer Deutlichkeit und Intensität, wie ich persönlich es mir hätte niemals vorstellen können." Die AfD sei der Beweis, dass "wir gerade keine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad brauchen, sondern ein lebendiges Gedenken und Menschen, denen es ein Anliegen ist, die Erinnerung wachzuhalten". Sie habe gehofft, dass die Gesellschaft Judenfeindlichkeit und Intoleranz hinter sich lassen könne. "Ich sehe heute, dass mir das nicht mehr vergönnt sein wird."

Dann spricht sie die Anwesenden direkt an: "Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Sie es womöglich noch erleben. Stehen Sie auf, wenn Demokratie und Freiheit in Gefahr sind. Heute - und jeden Tag."

© SZ vom 05.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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