Skulpturale Malerei:Schein und Sein

Lesezeit: 4 min

Man mag es nicht recht glauben, aber: dies ist ein Bild, auch wenn es dem Betrachter die Massivität von Stahl oder Holz vermittelt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Gabriele Middelmanns Gemälde sind ein Fest für die Sinne, bei denen nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Derzeit ist ihre Ausstellung "Sequenzen" in der KVD-Galerie zu sehen

Von Gregor Schiegl, Dachau

Gabriele Middelmann muss sich verkleinern: 160 Quadratmeter für die Kunst sind ein schöner Luxus, aber nicht mehr leistbar, wenn die Rücklagen fast komplett abgeschmolzen sind. Ihr Atelier in Fahrenzhausen räumt sie gerade und bezieht nun in einen kleineren Raum. In diesen pandemischen Zeiten gerät ja alles aus den Fugen wegen des "C", wie die Künstlerin das verheerende Coronavirus in knappstmöglicher Form umschreibt: Schon im Januar hätte ihre Ausstellung "Sequenzen" in der KVD-Galerie starten sollen. Dann schlug "das C" zu. Jetzt im März hat es dann doch noch geklappt mit der Ausstellung, aber die Infektionszahlen schnellen schon wieder bedrohlich in die Höhe. Wie lange die "Sequenzen" zu sehen sein werden, kann wahrscheinlich nicht mal das Robert-Koch-Institut mit Bestimmtheit sagen. Von diesen unsicheren Aussichten lässt Gabriele Middelmann sich aber nicht unterkriegen: "Die Bilder mussten mal raus", sagt sie mit scheuchender Handbewegung, als handelte es sich um Kinder, die nach der ewigen Stubenhockerei auch mal an frische Luft müssen.

Gabriele Middelmann zeigt in der KVD-Galerie "Sequenzen". (Foto: Niels P. Jørgensen)

Zweifelsohne braucht auch das kunstaffine Dachauer Publikum dringend mal wieder eine Ausstellung wie diese. In Farbigkeit und Formenreichtum sind die "Sequenzen" ein Fest für die Sinne, bei dem aber auch nicht zu dick aufgetragen wird. Die Farbigkeit ist dezent, die Formen sind ansprechend und erscheinen trotz ihres abstrakten Eindrucks schon auf den ersten Blick vertraut. Was man zu sehen glaubt, sind raue Oberflächen von zarter Farblichkeit aber einer wuchtigen Materialität. Doch schon beim zweiten Blick stellt man fest, dass man einer formidablen Täuschung aufgesessen ist. Was aussieht wie alte Holztüren mit Zementresten und abblätternder pastellblauer Farbe, ist ein raffiniertes Gemälde aus Farbe, Leinwand und jeder Menge Knowhow. Auch das stählerne Scharnier, das sich mit kiloschwerer Massivität längst über eine Fläche zieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Stück windiger Wellpappe, das seine wundersame Verwandlung in Stahl einer Behandlung mit Kaffee, Pigmenten und anderen Ingredienzen verdankt. Ist das noch Malerei oder sind wir hier schon in der Plastik angelangt?

Gabriele Middelmann spricht von "skulpturaler Malerei". Diese Zwienatur, in der sich die Schwere von Stahl und Holz als malerische Illusion entpuppen, ist ein wunderbarer Clou, aber er ist nur ein kleiner, vordergründiger Aspekt ihrer Kunst. Mehr als um den Schein geht es ums Sein. "Ich beobachte die Natur ganz genau", sagt die Künstlerin, die selbst bei Märztemperaturen nicht auf ein Bad im Heiglweiher verzichtet: Naturbetrachtungen unter Extrembedingungen. Aber es gibt ja auch viel zu sehen über dem Wasser, in den Wiesen und Bäumen. Aus diesem Formenreichtum schöpft Gabriele Middelmann den Reichtum für die Formen ihrer Werke: Faltungen, Überlappungen, Schichtungen, Risse. Auf einem quadratischen Bild, das man seiner ausgeprägten glatten Plastizität wegen auch für eine Keramik halten könnte, erkennt man eine rhythmische Reihung von Kerben; sie bilden Wuchs und Struktur eines Palmenstamms nach. "Eigentlich sind meine Werke gegenständlich, aber ich zeige immer nur einen Ausschnitt davon", erklärt Gabriele Middelmann.

Dieses Werk heißt "Verkrustete Worte". (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die übergeordneten Themen, mit denen sie sich schon seit vielen Jahren intensiv auseinandersetzt, sind Oberfläche und Tiefe und damit verbunden Raum und Zeit. Letztere hinterlässt bekanntlich überall ihre Spuren. Dazu gehört nicht nur das Wachsen und Gedeihen sondern eben auch das Vergehen und Sich-Auflösen. Diese Prozesse studiert sie am liebsten an "lost places": aufgegebene Orte, an denen nun ungestört der Zahn der Zeit nagen kann. Etwa in der MD-Papierfabrik in Dachau mit ihrem abgeplatzten Putz, dem bröckelnden Zement, den verblassenden Aufschriften und wässrigen Rostspuren. Die Ästhetik des Verfalls: verwittert, verwaschen und immer auch auf eine poetische Weise verwunschen.

Oft beginnt Gabriele Middelmann ihre Bilder mit einem selbst gedichteten Vers, den sie auf die leere Leinwand schreibt; er löst den ersten künstlerischen Impuls aus, bildet gleichermaßen die Seele unter den zarten und zugleich schrundigen Oberflächen. "Die Bilder leben von Schwingungen", sagt sie. Auch von den Schwingungen der Worte und Verse, die Ausgangspunkt ihrer Arbeiten sind. Oft werden sie übermalt, verwischt, verworfen oder scheinen nur noch als bruchstückhafte Reminiszenz durch. "Ich gebe etwas und ich nehme etwas." So ist das im Leben, in der Liebe und in der Kunst. Bei einem antiquarischen Buch verleiht das aufgetragene Steinmehl dem Deckel die Optik einer Baumrinde mit brüchiger Borke. Die Titel: "Verkrustete Worte". Was für eine urwüchsige Poesie.

Oft steht bei Middelmann beides nebeneinander: das Werden und das Vergehen. Manchmal findet sogar simultan es statt: Ein florales Wanddekor behauptet vor der verblassenden Wandfarbe immer noch einen hartnäckigen Rest von farbiger Vitalität. "Ich vollziehe Entwicklungen wie in Zeitfenstern", erläutert Gabriele Middelmann das Konzept ihrer "Sequenzen". So gewährt sie spannende Einblicke in eine Welt, die nicht aus Entweder-oder, sondern vor allem im Sowohl-als-Auch besteht. "Die Kunst ist wie das Leben." Im Idealfall ist es ein harmonisch ausbalanciertes System wie bei Gabriele Middelmann. Zwischen Freiheit und Disziplin, zwischen Intelligenz und Emotion. Middelmann erschafft mit Hilfe von Steinmehl und Kunstharz reduzierte lineare Landschaften: Darin drückt sich eine "neue Ordnung" der Dinge aus. Das ist sehr erfrischend angesichts der verschachtelten Stufenpläne und verstolperten Impfstrategien der überforderten Regierungskünstler.

Dass man beim Titel der Ausstellung "Sequenzen" dann doch an das Sequenzieren von Gen-Material mutierender Viren denken muss, ist ein unvermeidlicher Kollateralschaden der Corona-Dauerbeballerung. Nachdem Middelmann zum ersten Mal in ihrer künstlerischen Laufbahn überhaupt kreisförmige Kunstwerke zeigt, könnte man sogar Mutmaßungen anstellen, das infektiöse "C" habe auch diese Ausstellung heimgesucht. Angesichts der geheimnisvollen rotglänzenden Oberfläche kann man sich aber auch weit weg träumen, auf den virenfreien Mars. So viel Weltflucht muss noch erlebt sein.

Gabriele Middelmann: Sequenzen. Ausstellung in der KVD-Galerie. Solange der Inzidenzwert des Robert-Koch-Instituts für den Landkreis Dachau unter 50 liegt, dürfen Besucher die Galerie zu den regulären Öffnungszeiten unter Einhaltung der AHA-Regeln besuchen. Am Mittwoch lag die Inzidenz im Landkreis bereits bei knapp 90. Bei dieser Inzidenz ist ein Besuch nur nach vorheriger Terminabsprache möglich. Dazu kann man vorab mit der Künstlerin unter 0172/78 34 700 telefonisch einen Ter min vereinbaren. Da sich die aktuellen Entwicklungen immer wieder ändern können, empfiehlt sich vor jedem Besuch ein Blick auf die Seite kavaude.de.

© SZ vom 18.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: