Dachauer Künstler bei der Biennale:Gefährdete Erinnerungen

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Der Protest von Alfred Ullrich aus Biberbach ist kein lauter: Mit seiner Kunst macht er sich auf die Diskriminierung der Roma aufmerksam. Nun stellt er seine Werke auf der Biennale in Venedig aus.

Wolfgang Eitler

Dieses Wanderleben war sicherlich ab und an heiter, voller Leichtigkeit: im Wohnwagen mit den beiden kleineren Schwestern und der Mutter unterwegs, die ihre Klöppeleien im Nachkriegs-Wien verkaufte. Auch die Geschichten von Alfred Ullrich, wie er sich zwei Jahrzehnte durch Europa hat treiben lassen, zeichnen das romantische Bild eines Taugenichts (Ullrich sagt "Gammler"), den es in einer ständigen Wellenbewegung von Wien nach Schweden verschlug und über München wieder zurück. Irgendwann ist er zufällig im ländlichen Biberbach im Landkreis Dachau gelandet.

Alfred Ullrich setzt sich mit seiner Kunst dafür ein, dass das diskriminierende Wort Landfahrer nicht mehr benutzt wird. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Tatsächlich könnten die luftigen Lineaturen des mütterlichen Caravans mit Fahne, Sonne und Mond ein so kleiner Bub mit neun Jahren gezeichnet haben, wie Alfred Ullrich damals einer war. Wenn es nicht eine Kaltnadelradierung wäre. Und die alten Hippiezeiten? "Ich muss mich organisieren", sagt Ullrich. Ausstellung folgt auf Ausstellung. Er will diesen Druck. Er spürt im Alter von 63 Jahren seine Möglichkeiten. Namhafte Kuratoren in Europa haben ihn in die Reihe der wichtigsten Künstler der Roma und Sinti aufgenommen. Er ist auf der Biennale in Venedig im Pavillon der Roma dabei; im Herbst folgt eine Einzelausstellung in Berlin.

Insofern könnte Ullrich sich sein Leben retrospektiv im Biberbacher Bauernhof beschaulich reden. Aber tatsächlich war er nicht in der Lage, sich der Vergangenheit seiner Familie zu erwehren und trieb in die Ziellosigkeit hinein. Sie taucht in einer charmanten wienerischen Version im Gespräch auf. Die Frage nach dem Geburtsdatum beantwortet Ullrich mit Assoziationen an seine Kindheit, an den Wohnwagen.

Das Datum seiner Geburt muss nachdrücklich erfragt werden. "Willst du das alles so genau wissen?" Er ist 1948 in Schwabmünchen bei Landsberg geboren. Seine Mutter war als Sintiza und KZ-Überlebende dort in der Nähe untergebracht. Weil ihre Ehe mit einem Deutschen scheiterte, ging sie 1952 zurück zu ihrer Familie nach Wien - vielmehr zu jenen, die davon übrig waren. Denn die meisten Angehörigen waren von den Nazis umgebracht worden.

Ullrich aber fühlte sich nirgends zu Hause. "Ich konnte nichts planen." Sein Leben war ein Wegducken, Abtauchen. Denn er war als Sohn eines Deutschen der Außenseiter unter Außenseitern. Er weigerte sich, die eigene Sprache Romanes zu lernen. Und die Mehrheitsgesellschaft? Da gehörte er ebenfalls nicht hin. Nicht einmal zur Wiener Boheme der sechziger Jahre. Jahrzehnte später, als er erstmals in Wien ausstellte, titelte Die Presse:

"Der Zigeunerfredi ist wieder da." 1980, als er mit einer Wohngemeinschaft aufs Land nach Biberbach zog - mittlerweile lebt er dort allein -, hatte er es dank eines Gelegenheitsjobs zur Meisterschaft in der Kupferstecherei gebracht. Er war für den Münchner Akademieprofessor Karl Fred Dahmen tätig. Ullrich versuchte, sich in Dachau als Grafiker zu etablieren, der vor allem mit seinem Können brilliert. Die Exotik seiner Herkunft faszinierte jedoch mehr.

Sein Beitrag für den Roma-Pavillon in Venedig komprimiert den Wandel vom "Fredi" zum politischen Sinti-Künstler. Ullrich zeigt dokumentarische Fotografien der Kunstaktion "Perlen vor die Säue" vor der KZ-Gedenkstätte in Lety südlich von Prag. 1994 wurde die Geschichte dieses Lagers und der Ermordung von Roma und Sinti erstmals veröffentlicht. Die Publikation geriet zum Skandal, weil das Lager als Schweinemastbetrieb diente. Ullrich stand 2001 vor der Gedenkstätte und ließ die Perlen aus seiner Hand rollen.

Die Missachtung, die den Opfer des Nationalsozialismus widerfahren war, konterte er nicht mit Empörung, sondern in gebeugter Haltung. In Venedig ist auch sein Protest gegen das Unwort "Landfahrer" gegenwärtig, das bis heute zur Bezeichnung von Sinti und Roma gängig ist. Aber er fragt voller Ungeduld, wann endlich die Zeit für solche Kunstaktionen vorüber ist. Die Stadt Dachau hat ihm für Venedig mehr Geld als Zuschuss gewährt, als es gekostet hätte, das Unwort-Schild in Dachau schon vor Jahren durch ein neutrales zu ersetzen und einen ordentlichen Campingplatz zu schaffen. "Absurd.".

Die Berliner Ausstellung in der Galerie von Moritz Pankok "Kai Dikhas" ("Ort des Sehens"), dem Großneffen des Malers Otto Pankok, der ein umfassendes Werk über Sinti und Roma geschaffen hat, bedeutet eine Zäsur. Ullrich greift auf künstlerische Traditionen der beiden Völker zurück. Auf eine männlich dominierte Laienkunst, die Emotionen mit den Mitteln der abstrakten Malerei artikuliert, und auf das Kunstgewerbe der Frauen mit überlieferten geometrischen Mustern. Genau so wie die Klöppeleien seiner Mutter.

Ullrich zeigt Drucke mit Ornamenten in harten blauen Tönen. Darüber haben sich Pastellfarben gelegt. Es sind Bilder gegen das Schönreden. "Gegen ein offizielles Gedenken", das mit all den gewählten Worten und tradierten Gesten, "die Erinnerung gefährdet". Für eine echte Anteilnahme an Sinti und Roma über das Medium der Kunst.

© SZ vom 06.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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