Dachau nach dem Lockdown:Das erste Aufatmen

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Der Landkreis zählt zu den Hotspots der Corona-Pandemie in Bayern. Das Dachauer Gesundheitssystem konnte die Herausforderung bislang gut meistern - dank strenger Kontaktbeschränkungen. Die haben in anderen Bereichen allerdings jetzt schon schwerwiegende Folgen. Eine Bilanz

Von Thomas Balbierer, Dachau

Der Landkreis Dachau zählt zu den zehn am stärksten vom Coronavirus betroffenen Kreisen in Bayern. Laut Landratsamt haben sich bislang 901 Menschen mit dem Erreger infiziert, etwa 70 Personen sind derzeit an Covid-19 erkrankt, 26 sind gestorben. Am Donnerstag wurde vom Landratsamt keine neue Infektion gemeldet, die Zahl der wöchentlichen Tests liegt bei 2000. Die erste Infektionswelle ist vorüber, das Virus aber bleibt.

Karin Märkl desinfiziert das Kartenlesegerät nach jeder Zahlung. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Was hat die Pandemie im Landkreis angerichtet? Zeit für eine Bestandsaufnahme. Fragt man Unternehmer, Lehrer, Ärzte, Polizisten, Künstler und Ehrenamtliche aus dem Landkreis nach einer ersten Bilanz, sagen viele, dass die Region vom Schlimmsten verschont geblieben sei. Gleichzeitig sind Verunsicherung, Ratlosigkeit und die Furcht vor einer weiteren Ansteckungswelle zu spüren. Landrat Stefan Löwl (CSU) warnt vor Übermut. Dass nun gelockert werde, heiße nicht, dass das Virus weg sei, sondern, dass "wir (zum Glück) genügend freie Intensivbetten in unseren Krankenhäusern haben", teilte Löwl am Montag auf seiner Facebook-Seite mit. Auch der Dachauer Mediziner Christian Günzel, der Ende März zum Versorgungsarzt des Landkreises berufen wurde, sieht die Region noch nicht über den Berg: Ein Anstieg von 50 Neuinfektionen pro Woche und 100 000 Einwohnern könnte "schnell gehen". Dann müssten Beschränkungen wieder in Kraft gesetzt werden.

Gesundheit

Mitte März sorgten Szenen aus überfüllten Krankenhäusern in Norditalien auch in Dachau für Entsetzen. "Ich hatte große Angst, dass es bei uns zu ähnlich katastrophalen Verhältnissen kommen würde und Menschen in Zelten sterben müssten", erinnert sich der Karlsfelder Mediziner Hans-Ulrich Braun, der dem Ärztlichen Kreisverband vorsitzt. Auch wenn sich die Versorgungslage wegen des weltweiten Mangels an medizinischer Schutzausrüstung zuspitzte, blieb die befürchtete Katastrophe aus. Das Gesundheitssystem hielt der Belastung stand, resümiert Braun. Auch weil schnell gehandelt wurde: In Markt Indersdorf entstand im März eine Corona-Teststation, das Helios Amper-Klinikum in Dachau richtete eine Notfallklinik ein, die Kapazitäten auf der Intensivstation wurden auf 48 verdoppelt. Nur einmal wurde das System laut Versorgungsarzt Christian Günzel auf die Probe gestellt: Als die Infektionswelle vor Ostern ihren Höhepunkt erreichte, "wäre die Intensivstation ohne Aufstockung eine Woche später voll gewesen", so Günzel. Inzwischen hat sich die Lage entspannt, Vorsichtsmaßnahmen wie die Notfallklinik mussten nicht aktiviert werden. "Wir haben das größte Übel verhindert", erklärt Günzel.

Gastronomie und Handel

Weinverkostung per Videochat: nur ein Beispiel, das zeigt, wie vielfältig der Umgang mit der Krise aussehen kann. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Angst war groß bei vielen Unternehmern im Landkreis, als die bayerische Staatsregierung Mitte März die Schließung zahlreicher Geschäfte und Lokale anordnete. Umsätze brachen weg, Mitarbeiter mussten in Kurzarbeit, Existenzen standen auf dem Spiel. Allein im März und April sind nach Statistik der Agentur für Arbeit mehr als 1000 Menschen im Landkreis in die Arbeitslosigkeit gerutscht. Tausende Betriebe haben Kurzarbeit beantragt, genaue Zahlen gibt es noch nicht.

Die Ausgangsbeschränkungen brachten das wirtschaftliche Leben weitgehend zum Erliegen. Kunden gaben ihr Geld nur noch für Lebensmittel und Klopapier aus. Zu dieser Zeit habe das Dachauer Zentrum einer "Geisterstadt" geglichen, sagt Isabel Seeber, Inhaberin des Delikatessengeschäfts Candisserie und Vorsitzende des Dachauer Vereins "Die Münchner Straße" unter dem Dach des Selbstständigen-Bundes. Nach dem ersten Schock hätten die Kunden die lokalen Läden aber wieder unterstützt. Mit ihrem eigenen Geschäft und 14 Angestellten ist Seeber bislang ohne Kurzarbeit und Kredite durch die Krise gekommen. Ihr Umsatz sei nach den jüngsten Lockerungen bereits auf Vor-Krisen-Niveau. Seeber weiß aber auch, dass nicht alle Betriebe die Durststrecke überleben werden. "Es gibt Firmen, die die Insolvenz treffen wird. Das ist schlimm."

Einkaufen ist in vielen Supermärkten nur mit einem Einkaufswagen oder -korb gestattet. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Verheerende Spuren könnte die Corona-Krise vor allem in der Gastronomie hinterlassen. Der Frust bei Michael Groß sitzt deshalb tief. Seit fast zwei Monaten steht der Betrieb in seinem Bergkirchener Gasthof nahezu still. "Es geht jetzt bei vielen an die Existenz", sagt Groß, der als Kreisvorsitzender des Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) um die bedrohliche Situation vieler Kollegen weiß. Die von der Staatsregierung geplante Öffnung der Gastronomie Ende Mai sei überlebenswichtig. "Wenn wir nicht öffnen können, geht es mit uns den Bach runter", warnt er. Groß ärgert sich, dass die Politik über Abwrackprämien für Autohersteller diskutiert, während kleine Unternehmen vor der Pleite stehen. Er fordert mehr Unterstützung. Die Soforthilfen und die auf ein Jahr begrenzte Senkung der Mehrwertsteuer auf sieben Prozent reichten nicht aus, um die Verluste zu kompensieren. Außerdem sei die Zukunft von Bars und Kneipen, die weiterhin nicht öffnen dürfen, völlig ungewiss.

Schulen

Halbvolle Klassenzimmer sind vielerorts aktuell der Normalzustand. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Schritt für Schritt öffnen dagegen die Schulen im Freistaat. Doch auch in den Klassenzimmern kann von Normalität keine Rede sein, sagt Beate Rexhäuser. Bei der Kreisvorsitzenden des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) herrscht große Ratlosigkeit. "Ein regulärer Schulbetrieb ist sehr fern." Es fehle an Personal, digitaler Ausstattung und Räumlichkeiten, die groß genug sind, um die Abstandsgebote in den Klassen auch wirklich einzuhalten. Viele Lehrer gehörten zur Risikogruppe, der Schultransport mit Bus und Bahn sei eine "logistische Meisterleistung". Die Mittelschullehrerin fürchtet, dass die Corona-Krise nachhaltige Schäden in der Bildungsbiografie vieler Kinder hinterlassen könnte. Wie gut der Heimunterricht im März und April wirklich funktioniert habe, sei schwer zu überprüfen. Familien in "digitalen Funklöchern" könnte man mit elektronischen Arbeitsblättern kaum erreichen. Ihre Prognose fällt düster aus: "Im September können wir von einem verlorenen Schulhalbjahr ausgehen."

Familien

Unter den Folgen der Schulschließungen leiden dann vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Denn die Corona-Krise wirke wie ein Verstärker von bestehenden Problemen, sagt Susanne Frölian, Leiterin der Jugend- und Elternberatung der Caritas. Streit, Gewalt und Ängste würden überall dort verschärft, wo es sie schon zuvor gab. Schüler, die beim Lernen zu Hause keine Unterstützung bekommen, blieben zurück. "Die soziale Schere geht weiter auf", so Frölian. Wie unter einer Lupe lege die Pandemie Ungleichheiten offen: Wer beispielsweise in einem Haus mit Garten wohnt, könne die Krise besser überstehen als Familien in einer engen Zweizimmerwohnung oder Bewohner in Flüchtlingsheimen. Finanzielle Sorgen wirkten wie "Zündstoff" in manchen Familien, sagt Frölian. Langfristige Folgen wie die Zunahme von Trennungen und Depressionen würden sich erst mit der Zeit offenbaren, erklärt die Sozialberaterin.

Isabel Seeber fürchtet, dass einige Betriebe nicht überleben werden. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Kultur

Wann kann ich wieder auftreten? Vor dieser Frage stehen derzeit Musiker, Schauspieler und andere Bühnenkünstler. Weil Konzerte, Kabarett und Theater höchstens als Stream im Internet erlaubt sind, gehe es bei vielen Kulturschaffenden "ans Eingemachte", sagt Johannes Karl, Vorsitzender der Künstlervereinigung Dachau (KVD). Bayern hilft selbstständigen Kulturschaffenden zwar mit 1000 Euro im Monat durch die Krise. Damit zu überleben sei für Musiker, die sonst auf 4000 bis 5000 Euro Gage im Monat kämen, aber schwierig, sagt Marja-Leena Varpio vom Kulturkreis Haimhausen. Und nicht nur finanziell darbt die Kulturszene. Es fehlt das "unersetzliche" Live-Erlebnis mit Publikum, erklärt die Sängerin. "Wir warten sehnsüchtig auf Möglichkeiten, unser Kulturprogramm fortzusetzen." In welcher Form und wann zum Beispiel Konzerte wieder stattfinden können, sei noch völlig unklar, "Großveranstaltungen" sind bis 31. August verboten. Und wie geht es danach weiter? Johannes Karl fürchtet eine große Sparwelle. Wenn Firmen und Kommunen den Rotstift ansetzen, könnte es die Kultur als erstes treffen. "Die Frage ist: Wird Kunst nur als Luxusprodukt begriffen oder als notwendiger Teil der Gesellschaft?"

Sport

Seit einigen Tagen ist Individualsport in Vereinen wieder erlaubt, Fitnessstudios und Mannschaftssport sind weiterhin tabu. Die Sportvereine im Landkreis klagen über fehlende Einnahmen aus Veranstaltungen und Sponsoring. Allein der TSV Eintracht Karlsfeld bezifferte die Verluste Mitte April auf 75 000 Euro. "Für einen gemeinnützigen Verein, der keine großen Rücklagen haben darf, ist das nicht einfach so wegzustecken", sagt TSV-Präsident Rüdiger Meyer. Der Bayerische Landes-Sportverband (BLSV) geht von einem Gesamtschaden von rund 200 Millionen Euro im Freistaat aus. Günter Dietz, Sportreferent im Dachauer Stadtrat und Kreisvorsitzender des BLSV, sagt, er könne nicht ausschließen, dass es Clubs gebe, die die Pandemie nicht überleben werden. Zwar hat der Freistaat die Vereinspauschale im April auf 40 Millionen Euro verdoppelt, doch das werde nicht reichen, um die Verluste auszugleichen, so Dietz. Weitere Hilfen seien nötig. Trotz der schwierigen Lage lobt der BLSV-Kreischef die Solidarität der Vereine und appelliert an die Geduld der Sportler: "Wir müssen vernünftig bleiben und dürfen keine zweite Welle riskieren."

Sicherheit

Das Fazit der Dachauer Polizei überrascht vielleicht am meisten, stellte die Pandemie doch gerade die Ordnungshüter vor ganz neue Herausforderungen. Sie mussten die bislang beispiellosen Kontaktverbote kontrollieren und sich selbst vor dem Virus schützen. Das ist laut Thomas Rauscher, Chef der Dachauer Polizeiinspektion, gut gelungen. Nur sechs Polizisten infizierten sich mit Covid-19 (Stand 8. Mai). Die Einsatzfähigkeit sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen, so Rauscher. Im Gegenteil: Die Corona-Krise war für die Polizei laut Rauscher eine "entspannte Zeit", die für Überstundenabbau und Urlaub genutzt wurde. Viele Einsätze seien weggefallen. Es gab weniger Verkehrsunfälle, weniger Körperverletzungen und weniger Delikte in Verbindung mit Alkohol. Selbst die Anzeigen von häuslicher Gewalt sind "spürbar zurückgegangen". Kinderschutzexperten rechnen jedoch mit hohen Dunkelziffern. Zugenommen haben laut Rauscher Betrügereien im Internet. An beliebten Treffpunkten wie dem Karlsfelder See und dem Dachauer Schloss musste die Behörde immer wieder Versammlungen auflösen. Zeitweise verwandelte sich die Dachauer Dienststelle in eine Art Corona-Callcenter - so groß war die Verunsicherung der Bürger nach den Ausgangsbeschränkungen. "Unsere Telefone standen nicht mehr still", sagt Rauscher.

Sollte es eine zweite Infektionswelle mit neuen Beschränkungen geben, sei die Dachauer Polizei gut gerüstet, betont der Polizeichef. Ob die Arbeit für seine Leute auch dann noch so entspannt sein wird, ist eine andere Frage.

© SZ vom 15.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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