Lesefestival:"Die Literatur schweigt, wenn Panzer sprechen"

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Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk liest im Thoma-Haus aus ihrem Essayband und spricht darüber mit Tanja Graf. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk stellt bei "Dachau liest" ihren Essayband "Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus" vor. Ein Gespräch über die Aufgabe und den Wert von Literatur in gesellschaftlichen und politischen Krisensituationen.

Von Emily Fabricius, Dachau

Zu Beginn des Abends beim Literaturfestival "Dachau liest" wiederholt Tanja Maljartschuk diesen Satz, den sie bereits in ihrer vielbeachteten Eröffnungsrede zum Bachmannpreis 2023 in ähnlicher Form gesagt hat: "Ich habe seit zwei Jahren den Glauben an die Literatur verloren." Anzusehen ist ihr das im Ludwig-Thoma-Haus aber nicht, Tanja Maljartschuk betritt die Bühne gemeinsam mit der Leiterin des Literaturhauses München Tanja Graf - lächelnd und unter großem Applaus.

Die in Wien lebende ukrainische Schriftstellerin, die sich immer wieder dagegen sperrt als eine solche bezeichnet zu werden, strahlt keine Hoffnungslosigkeit aus, auch wenn sie immer wieder davon spricht. Das mag auch daran liegen, dass "die beiden Tanjas", wie sie eröffnend eingeführt werden, sich kennen, duzen und ein sehr nahbares Gespräch führen. Als Zuhörende bekommt man den Eindruck, einer angeregten Diskussion unter Freundinnen beizuwohnen.

An dem Abend möchte Tanja Maljartschuk eigentlich ihren Essayband "Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus" vorstellen, doch das wird schnell zur Nebensache. Denn gleich zu Beginn stellt Tanja Graf fest: Es sei doch immer wieder die Literatur, die es schaffe, Zusammenhänge über historische Fakten hinaus zu vermitteln. Tanja Maljartschuk hört der Leiterin des Literaturhauses genau zu, schüttelt dann aber den Kopf und widerspricht: "Die Literatur schweigt, wenn Panzer sprechen", sagt sie: "Es ist eine süße Illusion, dass ich als Autorin etwas dagegen machen kann." Immer wieder dreht sich das Gespräch um die Frage: Was kann Literatur in Krisenzeiten leisten? Graf beharrt auf ihrer Position und führt an, dass es immer wichtig sei, Missstände zu beschreiben - Zustimmung im Saal, jedoch nicht bei Tanja Maljartschuk, der man anmerkt, dass sie sich mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt hat.

Tanja Maljartschuk, hier Anfang Oktober im Ludwig-Thoma-Haus in Dachau, liest auch beim Auftakt des Festivals im Literaturhaus. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Doch Maljartschuk sei leider zu der Erkenntnis gelangt, dass Literatur immer nur im Nachhinein als eine Art "stummer Zeuge" fungieren könne. Literatur werde oft die Macht zugesprochen, ein Mahnmal zu sein, damit etwas Grauenhaftes nicht wieder passieren könne. Immer wieder lässt sie Referenzen auf Ingeborg Bachmann, Immanuel Kant und Hannah Arendt in ihre langen und durchdachten Gesprächsbeiträge einfließen.

Erst vor Kurzem habe sie wieder den Klassiker von Erich Maria Remarque "Im Westen nichts Neues" gelesen und sich daran erinnert: dieses Buch, das vom Grauen des Ersten Weltkrieges berichtet, war seinerzeit bereits ein Bestseller und wurde viel beachtet und gelesen. Und trotzdem kamen zehn Jahre später die Nationalsozialisten an die Macht und ein neuer, noch grausamerer Krieg brach an. Nicken in der ersten Reihe. Sie bezeichnet diese Erkenntnis als "eine bittere Feststellung der Ohnmächtigkeit der Literatur und Worte."

Ohnmächtigkeit - das klingt sehr nach Hoffnungslosigkeit. Es folgt aber dann noch der wichtige nächste Satz: "Es gehört zum Wesen des Menschseins dazu, die Hoffnung nicht verlieren zu können, denn wenn wir die Hoffnung verlieren, hören wir auf zu leben." Leises Klatschen im Saal.

"Wenn man diesen Essayband liest, versteht man die Ukraine"

Trotzdem: Ihr großes Romanprojekt über ihr Heimatdorf und seine Verbindung zum Holocaust, für das die Bachmann-Preisträgerin von 2018 drei Jahre lang recherchiert hat, hat sie wegen des Angriffskrieges auf ihr Heimatland abgebrochen. Sie sei momentan einfach keine Autorin. Sie könne sich momentan lediglich mit dem Begriff der Erfahrungsübersetzerin arrangieren, obwohl sie sich immer wieder dabei ertappt, sich zu fragen: "Hat es überhaupt irgendeinen Sinn, dass ich immer wieder auf Bühnen gehe und lese und über meine Erfahrung spreche, wenn Freunde und Kolleginnen in der Ukraine tagtäglich um ihr Leben fürchten müssen?" Trotzdem macht sie immer wieder weiter und liest, spricht und diskutiert.

Zwei Texte aus ihrem Essayband trägt sie vor auf der Bühne in Dachau. Die Essays sind klug, witzig, lakonisch, wie die Autorin selbst. Tanja Maljartschuk liest lebendig und betont, immer wieder ist Lachen im Saal zu hören. In den Texten geht es um ihr Heimatland, um Traumata und Nostalgie, um ihre Großeltern und ihre Sprache, und man bekommt den Eindruck, dass es stimmt, was Tanja Graf einleitend gesagt hat: "Wenn man diesen Essayband liest, versteht man die Ukraine." Für das Publikum an diesem Abend ist dies aber nicht entscheidend, man kann hier auch einfach Tanja Maljartschuk, der Erfahrungsübersetzerin, zuhören.

Nach der Lesung bleiben viele der vorwiegend weiblichen Zuhörenden noch lange sitzen und lassen das Gehörte auf sich wirken. Die vorherige Konzentration im Saal weicht einem kollektiven Nachdenken über die doch anspruchsvolle Diskussion über den Wert von Literatur, Sprache und Worten. Auch die Gespräche am Signiertisch, die Tanja Maljartschuk mit den Zuhörenden führt, drehen sich über die großen Fragen dieses bewegenden und lehrreichen Abends. Man verlässt das Gebäude mit einem Gefühl der Hoffnung: Vielleicht kann Literatur doch Panzer übertönen und vielleicht kann Tanja Maljartschuk doch den Glauben an die Literatur zurückgewinnen. Heute klang es zumindest so.

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