Im Garten von Paul Havermann sprießen schon die ersten Krokusse, lilafarbene Tupfer auf frühlingsgrünem Rasen. Das könnte ein hübsches kleines Stillleben abgeben. Die meisten Motive seiner Gemälde entstammen dem eigenen Garten. "Der Garten ist ein wichtiger Teil in meinem Leben", sagt der Dachauer Künstler, "meine Inspiration". Im September widmet die Künstlervereinigung Dachau dem 69-Jährigen eine Einzelausstellung. Dort wird unter anderem das im Herbst 2020 gemalte Bild "Letzte Ernte" zu sehen sein, ein reich behängter Apfelbaum, eine impressionistisch anmutende Idylle, die wieder mal schön zeigt, wie sich in Havermanns Bildern Licht, Farbe und Materialität gegenseitig durchdringen.
Bis vor wenigen Monaten stand der porträtierte Apfelbaum noch drüben auf der anderen Seite des Zauns auf dem weitläufigen Nachbargrundstück an der Otto-Strützel-Straße. Dann wurde er abgesägt und in armlange Holzstücke zerlegt. Auch davon gibt es ein Bild, Titel: "Ausgeräumt". Ein Investor hat das Nachbarareal erworben, um dort eine Wohnanlage zu errichten. Eine übermäßige Nachverdichtung, wie anfangs vorgesehen, lehnte eine Bürgerinitiative von Anwohnern ab. "Der Grünzug, der hintere Gartenanteil, sollte dem Geviert entsprechend und zur Durchlüftung bei der künftigen Klimaerwärmung erhalten bleiben."
Der Stadtteil Dachau Süd mit seinen vielen alten Künstlervillen aus der Zeit um die Jahrhundertwende und seinen großen Gärten ist ein Quartier, wie es sich jeder Eigenheimbesitzer wünschen würde. Viel Platz, viel Grün, viel Individualität. In den Feuilletons tobt derzeit ein wahrer Kulturkampf um das deutsche Einfamilienhaus, das die Grünen angeblich abschaffen wollten. Ist natürlich Quatsch, aber es schlägt hohe Wellen, denn die Frage, wie wir in Zukunft wohnen wollen, können oder müssen, ist eine, die gerade viele Menschen bewegt. Erst recht in der Stadt Dachau, die schneller wächst als jede andere im Münchner Speckgürtel. In 20 Jahren soll die Stadt fünfzehn Prozent mehr Einwohner haben, sagen die Prognosen. Dies würde bedeuten, dass Dachau um die jetzige Einwohnerzahl von Altomünster wachsen würde. Doch Dachaus Bürger wünschen sich, wie es in einer Umfrage im Dachauer Bürgermagazin Stadtgespräch im Juli 2020 zu lesen war, eine "maßvolle Nachverdichtung und eine Durchgrünung" ihrer Stadt.
"Es fehlt seit langer Zeit eine Strategie, den vielen einzelnen Bauvorhaben der Vergangenheit, der Gegenwart und noch wichtiger, den Bauvorhaben in der Zukunft im Dachauer Stadtgebiet gerecht zu werden", kritisierte Paul Havermann jüngst in einem ausführlichen Leserbrief an die SZ Dachau. Und er schlug den Bogen noch weiter: "Zu oft ufern historisch gewachsene Ortskerne in einen gesichts- und geschichtslosen Siedlungsbrei krebsartig in die Landschaft hinaus. Dann gesellen sich noch ausufernde Industriegebiete, architektonisch meist aus immer denselben Schubladen von Industriehallenprojektanten und die ewigen Billigdiscounter und Outletcenter mit ihrer noch billigeren Architektur dazu." Für seine Philippika bekam Havermann viel Zuspruch. "Endlich sagt's mal einer!" - so der allgemeine Tenor. Paul Havermann hat präzise artikuliert, was viele Leute nur als diffuses Unbehagen empfinden: Die billige Restraumverwertung und maßlose Nachverdichtung in der rasant wachsenden Stadt zerstört gewachsene Strukturen, sie geht auf Kosten von Wohn- und Lebensqualität und sie lässt die historische Identität von Quartieren erodieren. Havermann hat einen Nerv getroffen. Aber die Debatte hätte nicht so eine Dynamik bekommen können, wäre er nicht jemand, von dem man weiß, dass er sich auskennt mit dem Thema Baukultur.
Havermann war Gründungsmitglied des Architekturforums Dachau, das sich als kritisch-konstruktive Stimme im öffentlichen Diskurs um qualitätvolles Bauen versteht. Generationen von Schülern haben Havermann als Kunstlehrer erlebt, am Josef-Effner-Gymnasium, dann einige Jahre an der Deutschen Schule in Mailand und zuletzt am Ignaz-Taschner-Gymnasium, wo er auch selbst in vielen Kursen Architektur unterrichtet und ein mehrjähriges Schulprojekt der Bayerischen Architekten Kammer begleitet hat. Und wer sagt, ja, ja, die Lehrer, die meinen immer, sie wüssten alles besser, sollen sie es doch selber mal besser machen, der weiß offenbar nicht, wie viele bekannte Gebäude in der Stadt seine Handschrift tragen: Das kühne, aber stimmige Farbkonzept der Grundschule Augustenfeld ist ebenso Havermanns Werk wie die Beratung für den zeitgemäßen Umbau der Scheierl-Villa aus dem frühen 20. Jahrhundert und den daneben stehenden Turm auf dem ehemaligen Mühlengelände. Sein eigenes Haus hat Havermann in enger Zusammenarbeit mit dem Dachauer Architekten Hans Zaglauer nach den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen konzipiert. Der Vorgarten ist darauf abgestimmt mit seinen geometrisch geschnittenen Ahornbäumen und seiner niedrigen grünen Hecke. Eine Art Gesamtkunstwerk wie im Barock oder in der Bauhaus-Bewegung. So kann man es im Katalog zur Ausstellungsreihe "Kunst und Bank" im Jahr 2018, der Volksbank Raiffeisenbank Dachau lesen.
Die Idee, sich die baulichen Veränderungen im Dachauer Stadtbild mal gemeinsam für eine Serie der SZ Dachau anzuschauen und kritisch zu bewerten war Havermann schon lange eine Herzensangelegenheit. Aber nur zu beklagen, was alles schief läuft, das wäre dem ausgebildeten Pädagogen zu wenig, man müsse auch Vorbilder zeigen, Beispiele für gute Baulösungen in der Stadt. Und es dürfe dabei nicht der Eindruck entstehen, er hielte sich für die unfehlbare Autorität der Architektur. Paul Havermanns Blick auf die Stadtentwicklung ist fachkundig, aber natürlich subjektiv und geprägt von seiner Liebe zu seiner Heimatstadt Dachau, in der er auch geboren wurde. Havermann ist gewissermaßen die Linse, durch die die SZ auf Dachau blickt wie durch eine Brille.
Vielleicht sollte man lieber von einer Sehhilfe sprechen, denn darum geht es Havermann: um "eine Schule des Sehens". Diesen Blick für bauliche Qualität und gute Lösungen kann entwickeln, wer viel gesehen hat und sich mit dem Gesehenen tiefergehend beschäftigt. So ist es in der Kunst auch und selbst beim Essen und Trinken; wer Wein immer nur aus dem Tetrapak trinkt, wird nie erfahren, was einen guten Tropfen von Billigfusel unterscheidet. Worum es Paul Havermann vor allem geht, ist es, ein Bewusstsein für den "Genius loci" zu schaffen und dieses Bewusstsein zu schärfen. "Zum Genius loci, dem Geist des Ortes, gehört nicht nur die Architektur der unmittelbaren Umgebung, dazu gehören Besonderheiten des Gevierts wie Gärten und Grünzüge, Wege- und Sichtachsen und nicht zuletzt die Menschen, die dort leben", führt er aus. "Dies zu berücksichtigen ist sogar Voraussetzung für eine gute Architektur, die nicht nur den Profit, die Gewinnmaximierung oder das gefällige Blenden als oberstes Ziel im Auge hat."
Wem das immer noch zu abstrakt ist, dem sei ein Besuch in die Steinkirchner Straße empfohlen. Dort hat Havermann für ein historisches Haus der Jahrhundertwende einen Anbau für ein Kinderzimmer geplant - im Grunde genommen handelt es sich bei der Baumaßnahme um die Schließung einer Baulücke, eine Nachverdichtung en miniature. Die Fassade des angebauten Kinderzimmers ist mit bunten Holzstäben verkleidet, so ähnlich haben es kurioserweise dann auch die Architekten beim Museum Brandhorst gemacht. Nur dass Havermann das Bemalen und die Anordnung der bunten Stäbe den Kinder überlassen hat. Weil es ein Ort der Kinder ist. Das ist der Genius loci. Das Resultat ist schlicht und ergreifend stimmig.
Nach diesem Präludium geht es in der Folge 2 um die Entwicklung in der Altstadt mit Beispielen von gelungenem und weniger gelungenem Bauten im Bestand.
Kein noch so engagierter Diskurs kann die baurechtlichen Rahmenbedingungen und die ökonomischen Wirkmächte brechen, auch keiner, bei dem Paul Havermann mitwirkt. Aber mehr Sensibilität für qualitätvolles Bauen kann Entscheidungsträger sensibler und Bauherren kreativer machen. Damit wäre schon einiges gewonnen.