Asylpolitik:"Kinder tragen dieses Trauma lebenslang"

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Bei der Podiumsdiskussion der Seebrücke Dachau im Münchner Kulturzentrum Bellevue di Monaco diskutierten Michael Schrodi, Sophia Eckert, Stephan Dünnwald, Stefan Haas, Verena Machnik und Julie Richardson (von links nach rechts) über Kinderabschiebungen. (Foto: Seebrücke Dachau)

Die Familie Esiovwa aus Karlsfeld wurde 2022 abgeschoben. Nun verschärft sich die Lage in der Asylpolitik erneut. Was Abschiebungen für Kinder bedeuten, diskutieren Podiumsgäste der Seebrücke Dachau im Bellevue di Monaco.

Von Greta Kiso, Dachau/München

Mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und mit dem Flugzeug in ein völlig fremdes Land gebracht werden: Was wie der Albtraum eines jeden Kindes klingt, ist für 1375 kleine Menschen in Deutschland allein im ersten Halbjahr 2023 zur Realität geworden, Tendenz steigend. Laut Rechtsexpertin Sophia Eckert vom Kinderhilfswerk terre des hommes sind über 17 Prozent der aus Deutschland abgeschobenen Menschen im ersten Halbjahr 2023 minderjährig gewesen. Bei einer Veranstaltung im Münchner Kulturzentrum Bellevue di Monaco mit dem Titel "Die Kinderabschieber" drehte sich nun alles um einen Fall aus dem Landkreis Dachau: Die Abschiebung der Karlsfelder Familie Esiovwa nach Nigeria beschäftigt auch nach eineinhalb Jahren die Menschen.

Zu der Podiumsdiskussion hatte die Seebrücke Dachau neben Rechtsexpertin Sophia Eckert und Psychotherapeutin Julie Richardson, SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi (SPD) und Rex Osa, Aktivist und Gründer der Organisation Refugees4Refugees eingeladen. Den Gästen im Dachgeschoss des Kulturzentrums ist das Schicksal der Familie wohlbekannt, die meisten beschäftigt der Fall wohl seit der Abschiebung.

"Das war ein Hammer"

Die zahlreiche Unterstützung jedoch kam für die Familie zu spät. Mitten in der Nacht des 12. Juli 2022 wurde die Familie Esiovwa unerwartet nach Nigeria abgeschoben. Gabriel sei von einem auf den anderen Tag einfach nicht mehr in der Tagesstätte gewesen, erzählt Richardson. "Das war wie ein Hammer auf den Kopf". Bei der Podiumsdiskussion wird auch vor dem Hintergrund einer neuen Gesetzeslage besprochen, was eine Abschiebung speziell für Kinder bedeutet. Erst vor wenigen Tagen, am 27. Februar ist das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz in Kraft getretenen. Rechtsexpertin Sophia Eckert erklärt, dass das neue Gesetz das unangekündigte auch nächtliche Betreten von Wohnungen ohne Durchsuchungsbeschluss und Räumen von Dritten bei Abschiebungen legitimiert.

Für Kinder und Jugendliche gelte jedoch die UN-Kinderrechtskonvention, argumentiert Eckert. Im dritten Artikel heißt es: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist". Eine unangekündigte nächtliche Abschiebung scheint wie ein Verstoß gegen diese von Deutschland unterzeichnete Verpflichtung zur Wahrung der Kinderrechte.

"Er war einfach angekommen"

Viele Unterstützer der Esiovwas gehen davon aus, dass die drei Kinder der Familie aus Karlsfeld genau so eine Verletzung ihrer kindlichen Rechte erlebten. Das Schicksal der im Juli 2022 abgeschobenen Familie erlangte große Aufmerksamkeit. Das Vorgehen des Landratsamts Dachau wurde von der Seebrücke Dachau und anderen Unterstützern stark kritisert. Alle drei Kinder der nigerianisch-stämmigen Eltern sind in Europa geboren. Der Sohn, Gabriel hat eine geistige Entwicklungsstörung und beide Eltern sind schwer krank. Den Bedingungen zum Trotz war die Familie gut integriert, erzählt Julie Richardson. Richardson betreute Sohn Gabriel Esiovwa als Therapeutin und unterstützte darüber hinaus die ganze Familie. "Gabriel war eine Erfolgsgeschichte unserer Einrichtung. Er war einfach angekommen", berichtet Richardson von Gabriels Entwicklung in der Heilpädagogischen Tagesstätte Hebertshausen. Für die Familie wurden Unterstützungsschreiben gesammelt, eine Härtefallkommission sollte eingeleitet werden und eine Abschiebung verhindern.

Rex Osa, der digital an der Diskussion teilnimmt, unterhält mit seiner Organisation seit 2019 Schutzwohnungen in den Rückführungsländern als Zufluchtsorte für geflüchtete Familien nach ihrer Abschiebung. Die Organisation setzte sich für "Empowerment von geflüchteten Migranten" ein, so Osa, denn "Abschiebungen mit Kindern sind brutal". Er sagt: "Kinder tragen dieses Trauma lebenslang." Seine Organisation Refugees4Refugees kommt für Fahrtkosten und die medizinische Versorgung auf, manchmal habe er jedoch auch das Gefühl, die Aufgaben eines Trauma-Therapeuten zu übernehmen, erzählt Osa.

Ein Backlash der Kinderrechte

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi betont mehrfach, dass bestehendes Gesetz in einem Rechtsstaat auch umgesetzt werden müsse. Rechtmäßige Abschiebungen müssten also vollzogen werden. Die Familie Esiovwa wäre jedoch unter das Chancen-Aufenthaltsrecht gefallen und hätte rechtmäßig in Deutschland bleiben können, wenn dem Vater nicht die Arbeitserlaubnis entzogen worden wäre. Das Chancen-Aufenthaltsrecht räumt nach längerfristiger Aufenthaltserlaubnis ein Bleiberecht. Im Falle der Familie aus Karlsfeld wurde dieses Recht jedoch nicht ausgeschöpft, so Schrodi. Und das mit fatalen Folgen für die Kinder: Julie Richardson berichtet von einem Backlash der Kinderrechte. Sehenden Auges hätte man die drei Esiovwa-Kinder nach Nigeria geschickt, in eine Situation, die ihre Rechte auf Gesundheit und Bildung verletze. Die Familie finanziere die Medikamente und den in Nigeria kostenpflichtigen Schulbesuch über Spenden. Die Psychotherapeutin habe bei den Kindern starke Wesensveränderungen wahrgenommen. "Gabriels Mine ist versteinert. Früher war er ein Junge mit schallendem Lachen". Ohne die auf die individuellen Bedürfnisse angepasste Betreuung würde der Junge starke Rückschritte machen. Richardson ist sich sicher: "Die Härtefallprüfung wäre erfolgreich gewesen, wenn genug Zeit gewesen wäre". Das Dachauer Landratsamt hatte zum Fall geäußert, dass es sich vor der Abschiebung bei der Härtefallkommission erkundigt hatte, ob etwas gegen eine Abschiebung spreche und kein Antrag vorgelegen hätte.

"Kinderrechte sind verpflichtend", sagt Rechtsexpertin Sophia Eckert. So hat es Deutschland in der Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Sie sieht die Grundrechte aller Menschen in Gefahr, wenn hier Ausnahmen gemacht werden. Während Abschiebungsmaßnahmen von Kindern sei das jedoch gang und gäbe, so Eckert. Eine kindgerechte Begleitung sei während der Maßnahme häufig nicht gesichert, es habe schon Abschiebungen gegeben, bei denen Gewalt und Zwang gegen die Eltern vor Augen der Kinder ausgeübt wurde und teilweise sei es auch zu Familientrennungen gekommen. All das ist nicht mit der Kinderrechtskonvention vereinbar. Vor der Abschiebung eines Minderjährigen müsste eigentlich eine individuelle Kindeswohlprüfung vorgenommen werden, so Eckert. Nach der Kinderrechtskonvention müsste das Recht auf Bildung, Gesundheit und Betreuung von Behinderung im Rückführungsland sichergestellt sein. "Die Kindeswohlprüfung hätte ergeben, dass die Rückführung nicht geht", betont Eckert im Falle der Familie Esiovwa. In solch einem Fall müsse ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden, um den Verstoß gegen das Kinderrecht zu sanktionieren.

Kinderrechte sind verpflichtend

Der finanzpolitische Sprecher der SPD Michael Schrodi beschäftigt sich seit der Abschiebung der Familie Esiovwa 2022 mit der Situation. "Die Kinder wurden aus ihrem Leben gerissen. Ich bin kein Jurist, aber ich bin auch Vater zweier Kinder, es hat mich persönlich getroffen". Trotzdem habe er wenig Hoffnung auf die Möglichkeit einer Rückkehr der Familie. Es gäbe eine Wiedereinreisesperre von fünf Jahren. Diese könne zwar verkürzt werden, dafür wäre jedoch eine Initiative des Landratsamts Dachau nötig. Jetzt sei für die Familie Esiovwa vor allem die Hilfe vor Ort wichtig. Bisher kamen 20 000 Euro Spenden für die Familie zusammen. Wichtig sei, dass diese Unterstützung nicht nachlasse und die Kinder weiter zur Schule gehen können, sagt auch Stefan Haas, Mitglied der Seebrücke Dachau.

Das Ende des offiziellen Teils des Abends bedeutet für die meisten Gäste der Veranstaltung nicht direkt zu gehen. Viele bleiben und diskutieren weiter über die Asylpolitik in Dachau.Der Fall der Esiovwas wird sie weiter beschäftigen.

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