Bogenhausen/Daglfing:Die Begabung des Ortes

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Sie zu erspüren nennt die Stadtbaurätin eine wichtige Vorarbeit für große Bauprojekte wie im Nordosten

Von Nicole Graner, Bogenhausen/Daglfing

Münchens Stadtbaurätin Elisabeth Merk hat eine schöne, fast poetische Beschreibung dafür gefunden, wie wichtig es ist - bevor man große Bauvorhaben plant - das Gelände nach Schönheiten und Gewachsenem zu erspüren: "Die Begabung des Ortes" nennt sie diese Vorarbeit, die ihrer Ansicht nach auch für das geplante Baugebiet im Münchner Nordosten unbedingt gemacht werden müsse. Denn nicht an jeder Stelle der Stadt könne man mit der gleichen Strategie planen, sagt Merk und legt damit den Grundstein für eine interessante Auseinandersetzung mit der Qualität von Urbanität.

Beim vierten virtuellen Infoabend zum SEM (Städtebauliche Entwicklungs-Maßnahme)-Gebiet geht es um die urbane Mischung, also welcher Bedarf für Handwerk, Gewerbe und Kultur im Nordosten wünschenswert ist, was dort funktioniert, gebraucht und möglich ist. Womit die "Begabung des Ortes" wieder in den Fokus rückt. Denn in dem bis jetzt ländlich geprägten Gebiet mit viel Grünflächen - eine der Begabungen - muss es, so Merk, eine gute Mischung geben aus Sport und Erholung, aus Räumen für die Gemeinschaft und aus der Möglichkeit, Landwirtschaft in urbanes Leben einzubauen. Und sie prägt einen neuen Begriff: das "Manufaktum der Zukunft". Was heißt: gute, alte Dinge, Regionales und neue, urbane Produktionen im Quartier zu verankern. Sie wünscht sich den Dialog mit den Menschen, die in dem Gebiet schon lange leben, sie wünscht sich ein Miteinander und die Chance, Ideen stets zu überdenken und neu zu formulieren. Bis zu 30 000 Menschen sollen einmal in dem Quartier wohnen, 2500 Arbeitsplätze werden durch soziale Infrastrukturen wie Schule und Kitas generiert werden.

Fast 160 Zuhörer loggen sich ein. Und die meisten, wie auch Referenten und Kommentatoren, freunden sich sofort mit Merks Begriffen an. Jürgen Enninger, Kulturreferent der Stadt Augsburg, lobt den Begriff der Begabung. Genau dazu gehörten Kunst und Kultur als starke "Innovationstreiber". Diese müsse man sichtbar machen, Räume schaffen, Ateliers. Teilhabe heißt, so Enninger, das Zauberwort. Das unterstreicht auch Dagmar Koblinger, am Münchner Kulturreferat für die Stadtteilkultur zuständig. Diese Begabungen müssten vielschichtig sein und man müsse diese kulturelle Infrastruktur von vornherein abfragen und planen, "gemeinsam mit den Bürgern".

Als Beispiel für ein funktionierendes Quartier in einer gewaltigen Größenordnung gilt die Seestadt Aspern in Wien - eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Elisabeth Merk hat das Areal schon besucht, und Philipp Fleischmann aus Wien gibt Einblicke. Bis 2030 werden in verschiedenen Etappen mehr als 20 000 Menschen einziehen und fast genauso viele Arbeitsplätze geschaffen. Mutige Konzepte seien, so Fleischmann, vorausgegangen, Flexibilität sei die Voraussetzung für alle Planungen gewesen. Von Anfang an müsse man wissen, wo es dichte Kerne geben soll. Welche Räume werden gebraucht - zum Beispiel von Dienstleistern, Künstlern, dem Handel? Das vorher abzufragen sei, so Fleischmann, absolut wichtig. Und: eine lebendige Erdgeschoss-Zone. Auf Frage des Publikums, das ruhig via Tweedback mitdiskutiert, welchen Stellenwert die Kunst habe, antwortet Fleischmann: einen sehr großen. Schon während der ersten Bauphase habe es ein von Künstlern initiiertes Kran-Ballett gegeben. Aspern als Vorbild? Absolut.

Die Diskussionsreihe, eine Kooperation der Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht, des Bayern-Forums, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Evangelischen Stadtakademie und der Münchner Volkshochschule, ist auf große Resonanz gestoßen. Das Interesse, aber auch Ängste sind groß. Wenn man auf Beteiligung setzt, wie von Anwohnern immer wieder gewünscht und von Experten geradezu angemahnt, könnten für die SEM Nordost auch Chancen erwachsen. Die Reihe soll im Herbst fortgesetzt werden.

© SZ vom 13.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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