Jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Aber vielleicht ist das nicht ganz so einfach. Zumindest nicht in diesem Fall, der "Seedbank of Love & Stories". Denn wie es dazu gekommen ist, dass Anja Uhlig im Projektraum Streitfeld nun auf einem Bett aus Laub die Wildnis erforscht und mit ihren 144 großen Marmeladengläsern darauf wartet, dass Leute vorbeikommen, Steine mitbringen und diese gegen die Steine in den Gläsern tauschen - das ist eine Geschichte, über deren Anfang die Künstlerin selbst erst mal ordentlich gründeln muss. Spitzbergen, München, Istanbul, Irland, München. Viele Kurswechsel hat es da gegeben, Zufälle, die Anja Uhlig, die Neugierige, dorthin geführt haben, wo etwas auf sie wartete. Und auf das sie sich, um den Preis einer wichtigen Erfahrung, einließ und noch immer einlässt. Doch um eine Kerbe einzuschlagen und Boden unter den Füßen zu gewinnen in dieser merkwürdigen Samenbank von Geschichten, einigt man sich mit ihr auf Folgendes: Am Anfang war der Kohl. Möglicherweise aber auch die Granatapfelbäume.
"Zum Gipfeltreffen: Kohl" hieß 2009 die Installation im Münchner Maximiliansforum. Inspiriert vom internationalen Samenbank-Projekt in Spitzbergen, wollte Anja Uhlig in der Unterführung austesten, ob Kohlköpfe unter Tage wachsen. In der Zwischenzeit erreichte sie eine Einladung nach Istanbul, sie sollte dort ihr "Projekt Spitzbergen" weiterführen. Mit Kohl? Uhlig entschied sich für den Granatapfel, diese hochsymbolische Frucht. So ließ sie an einem Tag im Herbst 2010 im Münchner Stadtraum 613 Granatäpfel schälen, von jedem wurde ein Samen aufgehoben und eingetopft, das Fruchtfleisch zu Marmelade verkocht. Hier tauchen die Gläser das erste Mal auf. Aus den Samen erwuchsen 613 Granatapfelbäumchen, die Uhlig dann Leuten in München und Istanbul in Obhut gab. "Und so kamen Menschen in meine Projekte und das machte es für mich viel größer", wird Uhlig viel später sagen.
Durch die Gezi-Park-Proteste 2013 fand die Granatapfel-Geschichte zumindest in der Türkei ein Ende. Exakt 202 Pflänzchen waren ihr übrig geblieben. Heute glaubt Anja Uhlig, dass es in gewisser Weise die Granatäpfel waren, die sie 2015 nach Doohoma gebracht haben, in ein winziges Nest an der Nordwestküste Irlands. Auch wenn sie eigentlich nur der Einladung einer Freundin folgte. Zunächst, so erzählt sie, sei dort nur die Weite, die Landschaft gewesen, und der Kopf ganz leer. Doch dann stand sie zufällig in dieser kleinen Post, im Herzzentrum des Dorfes. Wo einst am einzigen Telefonanschluss die Auswanderer aus aller Welt durchläuteten, um ihren Lieben ein Lebenszeichen zu geben. Für Anja Uhlig waren Orte schon immer mehr als nur vier Wände. Schließlich hat sie in München ein altes Klohäuschen zum Leben und zur Kunst erweckt. Also entschloss sie sich, die kleine Post als Umschlagplatz für die Geschichten sichtbar zu machen: Sie schrieb ein Konzept, gewann dafür ein Stipendium der Stadt, und 2016 fand sich in der Post auch ein Raum für ihre "Seedbank of Love & Stories". 144 Marmeladengläser, einst gefüllt mit dem Granatapfel-Gelee, warteten nun auf Geschichten, fertig zum Tausch.
Vier Jahre später ist sie Gast im Streitfeldprojektraum mit ebendiesen 144 Gläsern, in ihnen hocken nun Steine aus Doohoma und warten auf ein neues Zuhause. Denn das Postamt wurde 2017 geschlossen. Für die nunmehr ortlose Seedbank begann die Phase der Transformation, der Start einer neuen Geschichte. An Bord eines Transporters, gesteuert von einem polnischen Auswanderer, immer bedroht von den Unabwägbarkeiten des Brexit, kamen die Gläser zurück nach München. Uhlig, die auch scheinbar unbelebten Dingen Achtung entgegenbringt, wollte die irischen Steine allerdings nicht so einfach entführen. Mit reichlich Übergepäck - 144 Isarkieseln - flog sie nach Irland und ließ sie, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, dort. Der Ehrlichkeit halber muss gesagt werden, dass nicht alle Steine in den Gläsern im Projektraum noch zur "Erstbesetzung" aus Doohoma gehören. Denn die Seedbank hat mittlerweile schon zweimal Station gemacht, in Gräfelfing und im Klohäuschen. Mit den Ortswechseln, sagt Uhlig, verändere sich auch die Seedbank. Und die Steine, anders als die Zettel mit den Geschichten, "bringen ihre ganz eigenständige - haptische und visuelle - Energie ins Spiel". Sie würden die Erwartung an die Geschichten bezüglich Sprache und Qualität "entlasten". Eine "Geschichte" kann jetzt auch einfach ein Wort oder ein "Lebens"-Zeichen sein.
Auch Anja Uhlig spürt nun eine Transformation. Die Tage im Streitfeld will sie nutzen, um mit ihrem Projekt "My urban wilderness residency" der Natur näher und sich selbst dabei auf die Spur zu kommen. Auf einem Laubbett wird sie dort übernachten, den Baum im Hof erklettern. Durch den anstehenden Lockdown wird sie nun mehr Zeit für sich haben, als ursprünglich geplant. Denn nur noch an diesem Wochenende werden Gäste zum Steintausch vorbeikommen dürfen. Wieder also nimmt die Geschichte eine unvorhergesehene Wendung, einen neuen Aufbruch.
"My - urban - Wilderness Residency, Seedbank of Love & Stories", Anja Uhlig im Streitfeld-Projektraum, Streitfeldstraße 33, Rückgebäude, offen für Besucher nur Samstag, 31. Oktober, 14 bis17 Uhr, Sonntag, 1. November, 11 bis 14 Uhr. Über ihre Residency bis 8. November will Uhlig in einem Blog berichten, https://projektraum.streitfeld.net oder http://wildnis-streitfeld.realitaetsbuero.de.