Bayerische Staatsoper:Nach dem großen Knall

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Ein Spaß ist die Partie des "Lear“ in Reimanns Oper nicht. Trotz anfänglicher Zweifel singt Christian Gerhaher den alten Despoten nun trotzdem. (Foto: Wilfried Hösl)

Christian Gerhaher singt Lear, spricht über Lautstärke und den Kampf der Initiative "Aufstehen für Kunst"

Interview von Egbert Tholl

Aribert Reimanns Oper "Lear" feierte am 9. Juli 1978 ihre Uraufführung an der Bayerischen Staatsoper, die Titelpartie sang damals Dietrich Fischer-Dieskau. Nun gibt es eine Neuinszenierung des erfolgreichen Werks an der Staatsoper, die am 23. Mai Premiere hat. Zum ersten Mal inszeniert Christoph Marthaler am Haus, die musikalische Leitung hat Jukka-Pekka Saraste. Und die Titelpartie singt Christian Gerhaher.

SZ: Herr Gerhaher, was bringt Reimanns Vertonung gegenüber der Vorlage, Shakespeares "King Lear"?

Christian Gerhaher: Lautstärke. Und das passt, denn es ist ein lautes Drama. Früher hat mich immer gestört, dass im Theater geschrien wird.

Das ist nicht mehr so.

Aber es hat mich echt gestört. Hier nun wird wenig geschrien, aber laut gesungen. Und vor allem wahnsinnig laut Musik gemacht. Es ist so: Drei Sachverhalte, die ich jetzt bei dieser Produktion beobachte, passen sehr gut. Erstens: Das Libretto von Claus H. Henneberg ist in meinen Augen eine starke Vereinfachung des Theaterstücks, aber das kann bei Shakespeare ja wohl nicht anders sein. Es hat einen geradlinigen Erzählstrang, schön hintereinander, und es macht keine Probleme. Das wird zum großen Erfolg dieser Oper beigetragen haben. Denn die Musik ist das genaue Gegenteil, sie ist laut, verwirrend, unglaublich aufwühlend und bringt das Existentielle des Theaterstücks zurück, was das Libretto ihm genommen hat. Und, drittens, ist erstaunlich bei dieser Inszenierung, dass die Shakespeare-untypischen, weil nicht vorhandenen drei aristotelischen Einheiten wieder vorhanden zu sein scheinen.

Gleichzeitig bleibt die Musik die meiste Zeit auf dem selben Erregungslevel.

Ja und nein. Fast eine Stunde lang ist es wahnsinnig laut, das stimmt. Aber das entspricht auch dem Shakespeare-Stück, bei dem der Höhepunkt gleich am Anfang ist. Es gibt den großen Knall - und dann geht's abwärts. Aber nicht im Sinne von Erregung, sondern von Entwicklung. Es bleibt erst einmal stehen, alles ist tiefschwarz, ohne Reflexion, ein riesiger Sturm, der immer wieder verebbt und nichts hervorbringt. Tatsächlich ist die Oper sehr lange sehr laut und belastend. Dann kommen die ersten Einbrüche.

Doch bleibt es sehr geradlinig.

Es ist bisweilen schon fast holzschnittartig. Toll ist, dass Christoph Marthaler hier Luft reinbringt. Durch Humor.

Das verblüfft, denn a priori denkt man sich: Wenn es eine für Marthaler denkbar ungeeignete Oper gibt, dann diese.

Weil?

Weil es keine Löcher gibt, in die er hineinkommt. Weil es nicht den Hauch eines Ansatzes von Witz oder Poesie gibt.

Bei Shakespeare schon, im Libretto nicht. Gefühlt fehlen auch viele Sätze. Marthaler wunderte sich auch, welche Sätze Henneberg auswählte, warum beispielsweise das Gekeife zwischen den beiden bösen Schwestern so lange Zeit hin und her geht.

Zumal man die eh kaum auseinander halten kann.

Ich kann das schon - vor allem, wenn man so grandiose Darstellerinnen hat. Aber es stimmt, eine große psychische Differenzierung merkt man nicht. Aber zu dem, was Sie vorhin meinten: Einen Humor kann hier vielleicht nur Marthaler reinbringen.

Wie macht er das?

Wir haben zum Beispiel einen schönen, kleinen Kalauer am Anfang, für den ich sehr dankbar bin. Am Schluss gibt es eine Wahnsinnsszene, die im Werk eventuell ernst gemeint sein könnte, bei der wir ein Tänzchen wagen, ein bisschen skurril; dann kommt der Lear ohne Hosen und in Wandersandalen, sehr lustig, aber auch vieles andere - traurig zum Beispiel.

Greift Marthaler auch in die Struktur ein? Bleibt die Oper mal stehen und macht Platz für Marthalereien?

Nein, das gibt es nicht. Es gibt ja in der Oper ein paar kleine Stellen, an denen gesprochen wird und nichts oder fast nichts zu hören ist. Diese sind aber nicht verlängert. Aber was mir wahnsinnig gut gefällt, und das ist natürlich nicht im Sinne von 1978: So viele Dinge, die konkret sein könnten, werden sofort gestrichen. Marthaler vermeidet durch konkrete Interaktion die psychologische Entwicklung einzelner Figuren plausibel machen zu wollen. Eher versucht er, die Figuren transparent zu machen. Und was mir besonders gut gefällt, und das ist nun wirklich sehr selten in der Opernregie, womit ich niemanden desavouieren möchten: Keiner schmeißt sich hier auf den Boden, keiner liegt rum und röchelt. Das ist schon auch mal schön.

Aber ein Spaß ist die Partie nicht?

Nein, nicht wirklich, dazu ist sie mir zu schwer zu singen und zu begreifen. Und schwierig zu lernen, auch weil Reimanns Notation mit ihrer in Grenzen rhythmischen Freiheit nicht ganz eindeutig, aber auch nicht wirklich frei ist. Man spürt in dieser ganz eigentümlichen Deklamationsart, dass Reimann vom Lied her kommt, dass er als Liedpianist viel Erfahrung mit Gesang hat.

Wie war denn Ihr erster Zugang?

Ich habe mir's einmal angehört und dachte mir, nein, das möchte ich nicht singen. Zu brutal und zu schwer für meine Stimme. Dann kam das Angebot von Nikolaus Bachler; er bat mich, es mir es nochmal zu überlegen, also überlegte ich, schaute mir es nochmal an, Bachler ließ nicht locker, meinte, ich solle es doch einmal mit dem Korrepetitor Richard Whilds durchgehen, und danach dachte ich mir: Das kannst eigentlich singen. Wennst den Wozzeck kannst, dann kannst das auch.

Spielte für Ihre Zusage dann eine Rolle, dass es Bachlers letzte Saison hier ist?

Er ist mir schon ein sehr wichtiger Intendant gewesen, und wenn er das wollte, habe ich mir's halt zwei Mal überlegt. Ich dachte mir auch, vielleicht bin ich zu jung für den Lear, aber da meinte er, dass sei Unsinn: Wenn Sie über 50 sind, können Sie das ausfüllen, dann wissen Sie, was der Tod bedeutet.

Außerdem haben Sie drei bald erwachsene Kinder, da können Sie die Situation auch zu Hause nachstellen.

Es geht ja nie darum, dass man das aus der eigenen Erfahrung heraus darstellt. Aber tatsächlich kam von einem berühmten Schauspielerkollegen der Einwand: Also das Alter für den Lear hast du noch nicht. Aber das ist vielleicht eher ein Fachcharakter im Schauspiel.

Agiert das Orchester eigentlich in der vorgegebenen Riesenbesetzung?

Ja. Aber eigentlich geht es mit Corona nicht. Deshalb sind die Streicher und Holzbläser im Graben, Blech und Schlagwerk sind im Bruno-Walter-Saal im Probengebäude und werden übertragen. Eine Kammermusikfassung von diesem Stück wäre das Falscheste, was man machen könnte. Dieses Stück braucht diese schier unfassbare Massivität.

Die Premiere ist mithin ein sehr lautstarkes Zeichen der Kunst, dass sie wieder da ist. Wie geht es nun mit der Initiative "Aufstehen für die Kunst", in die Sie stark involviert sind, weiter?

Wir versuchen, uns auf die beiden Verfassungsklagen zu konzentrieren und warten ab, was da herauskommt. Was uns wirklich bewegt, ist, dass das Wesen der Künste von den Bayerischen Gerichten in ihren juristisch vielleicht korrekten Eilantrags-Antworten missverstanden wird. Wenn gesagt wird, der Genuss von Kunst und Kultur sei durch die Kunstfreiheit nicht garantiert, dann muss man einfach sagen: Was ist hier falsch gelaufen? Wenn Kunst definiert wird als Genussmittel, dann hat sie nämlich auch schon ihre Freiheit verloren. Die Freiheit der Kunst muss neben der Wirk- und Werk-Freiheit bezogen sein auf die Zweckfreiheit der Kunst.

Die Kunst ist frei, weil Sie auch zuhause singen können. Das ist in etwa so, als bestehe Pressefreiheit darin, dass jemand Artikel schreibt, die nie veröffentlicht werden dürfen.

Oder der Pfarrer soll seine Messe alleine halten, er braucht ja niemanden dabei. Der Verfassungsgerichtshof hat gesagt, die Freiheit der Kunst sei im Vergleich zu der der Religion und der Versammlung zu Recht stärker eingeschränkt worden, weil bei der Religion und der Versammlung alle betroffen sind, bei der Kunst aber nur die Künstler. Das ist offensichtlich eine unangreifbare juristische Interpretation der Verfassungssituation. Wenn das aber legitim ist, dann muss man unbedingt die Interpretationslage dieser Verfassungssituation ändern oder die Verfassungssituation selbst, denn das Publikum gehört zur Kunst wie die Gemeinde zur Religion. Der Bereich der Darstellenden Künste wurde im sogenannten Lockdown light unverhältnismäßig und ungerechtfertigt extrem geschädigt. Die Aufgabe der Kunstminister wäre gewesen, den eigenen Bereich mit aller vorhandenen argumentativen Kraft zu verteidigen. Denn in keinem gesellschaftlichen Bereich, das haben genügend Studien bewiesen, ist es sicherer als in einem Theater oder Konzertsaal. Und deren erste abgeschlossene, die Münchner Studie der TU, wurde sogar vom Kunstministerium finanziert - das betont Herr Staatsminister Sibler gerne. Dann hatten wir noch den so positiv ausgegangenen Präzedenzfall der stattgefundenen Salzburger Festspiele 2020, bei denen keine Infektion nachgewiesen werden konnte. Und trotzdem wurden die Theater und Konzertsäle geschlossen, und die Großraumbüros nicht - ich muss sagen, die Kunstminister (vielleicht mit Ausnahme des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda), die so stolz auf den Kulturföderalismus mit der Eigenverantwortung der Länder für die Künste sind, sind in dieser Hinsicht ihrer Rolle als Beschützer der Künste nicht gerecht geworden. Umso mehr hoffen wir aber zum Kunst-Neustart und für die Zeit danach, dass sie die traumatisierten Künste mit aller Kraft gegen Kürzungen, Fusionen und Schließungen verteidigen werden.

© SZ vom 21.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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