Ballettmeisterin Ivy Amista:Die Seele muss mit dabei sein

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Von São Paolo nach München: Ivy Amista versteht sich als klassische Ballerina und liebt das traditionelle Repertoire, zu dem auch der Petipa-Klassiker "La Bayadère" gehört, in dem sie 16 Mal die Gamzatti tanzte. (Foto: Charles Tandy)

Ivy Amista, zuletzt Erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts, ist jetzt Ballettmeisterin

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Selbst mit geschlossenen Augen hätte man sie erspüren können, diese Intensität des Gefühls, die sie auf die Bühne brachte. Solche emotionale Kraft ist noch einmal etwas anderes als die rare Bühnenpräsenz, die unbedingt vonnöten ist, um von einem Publikum überhaupt als herausragend wahrgenommen zu werden. Ivy Amista hat es, dieses emotionale Surplus, mit dem sie all ihre Rollen vertiefte, egal, ob sie hauptsächlich streng klassische Bravour verlangten, psychologische Feinzeichnung oder den dramatischen Ausbruch. Genau diese Qualität empfahl sie 2016, kurz vor dem Abschied von Ballettchef Ivan Liška, auch noch fürs Tanztheater - in Pina Bauschs "Für die Kinder von gestern heute und morgen".

Die Gewissheit, sich in eine Rolle einfühlen zu müssen, ist etwas, das sie weitergeben kann in ihrem neuen Beruf als Ballettmeisterin. Sie steht nach fast zwanzig Jahren nicht mehr auf, sondern hinter der Bühne. Seit Beginn der neuen Spielzeit bringt sie den zehn, 15 Jahre Jüngeren nahe, dass es eben nicht reicht, die richtigen Schritte exakt auszuführen, um technisch zu brillieren. Die Seele muss mit dabei sein, um eine Choreografie zum Atmen bringen. Als Julia atmeten noch die Arme bis in die Fingerspitzen hinein, wenn sie im Liebestaumel mit ihrem Romeo vorwärts stürmte. Ivy Amista ist eine seltene Mischung aus Innigkeit und Temperament, Eigenschaften, mit denen sie als Käthchen in Crankos "Der Widerspenstigen Zähmung" auftrumpfte. Man spürte ihn, den tödlichen Riss in ihrem Herzen, wenn sie in ihrer Lieblingsrolle, der Tatjana im "Onegin", den reumütigen Brief vor dem Geliebten zerfetzte. Und, last but not least, bewunderte man das kämpferische Furioso ihrer Phrygia in "Spartacus", Yuri Grigorowitschs pathetischem Heldenballett.

Mit all dem ist jetzt Schluss. Ivy Amista ist zwar erst 37 und allem Anschein nach topfit, hat aber ihre Ballerinenkarriere beendet. Man kann ihr leider nicht zuschauen, wie sie sich dabei macht, wenn sie mit zwölf Tänzerinnen die Variationen für "Schwanensee" und "Giselle" einstudiert. Denn im Probenhaus des Bayerischen Staatsballetts am Platzl herrschen, versteht sich, sehr strenge Corona-Regeln. Ivy Amista wartet deshalb aufs Gespräch am langen Tisch im Foyer des Hauses - eine langhaarige, schmale Frau mit schwarz glänzenden Augen, unprätentiös, frei von jeglicher manierierter Ballerinen-Allüre.

Die gebürtige Brasilianerin war sich schon mit 14 gewiss, Tänzerin werden zu müssen. Ihre Eltern unterstützten sie, als sie 2001 zu Konstanze Vernon an die Ballettakademie ging mit einem Stipendium der Heinz-Bosl-Stiftung in der Tasche und der Gewissheit, sollte sie scheitern, jederzeit in ihr gutbürgerliches Zuhause zurückkehren zu können. Tatsächlich blieb sie nicht lange Stipendiatin. Vernon habe sie nach nur sechs Monaten in den Arm genommen und gesagt: "Du bist jetzt genug vorbereitet." Von Ivan Liška bekam sie 2001 ihren Vertrag fürs Staatsballett, tanzte nach drei Jahren Demi-Solo, wurde 2007 Solistin und schließlich 2015/16 Erste Solistin. Alles ist glatt gelaufen für diese junge Tänzerin, deren Sehnsucht, auf der Bühne zu stehen, so groß war, dass sie auch das Heimweh in den ersten Jahren überwand.

Wie andere Balletttänzer ihrer Generation, hat sie die strengen Regeln der Ballettwelt nicht hinterfragt. Eine leidenschaftliche Ausbilderin wie die ehemalige Ballerina Konstanze Vernon schottete ihre Zöglinge so gut wie möglich von der Außenwelt ab, was Ivy Amista für sich so rechtfertigt: "Wir haben alles gegeben, um diesen Beruf zu machen, und haben so früh angefangen, dass nichts anderes mehr Platz hatte." Balletttänzer hätten einfach gemacht, was man ihnen gesagt hat, sagt sie. Es gab keine Me-too-Debatte, man diskutierte krasse Rollenstereotypen wie die in der "Widerspenstigen Zähmung" nicht, stritt nicht über Blackfacing von Mohren und andere 19.-Jahrhundert-Exoten in den Klassikern und schon gar nicht darüber, ob all dies noch unverändert aufzuführen sei. Überschreibungen, Übermalungen, wie sie im Schauspiel gang und gäbe sind, funktionieren bei den Ballettklassikern nicht, ohne dass man sie zerstörte. Auch deshalb ist Ivy Amista bestrebt, das klassische Erbe zu erhalten und an die Tänzer weiterzugeben wie schon Generationen vor ihr.

Aber sie weiß: "Heutzutage muss man viel mit den Tänzern sprechen, dass sie machen, was man von ihnen verlangt. Sie müssen verstehen, was sie tun. Sie stellen dauernd Fragen und sind stärkere Persönlichkeiten." Um zu vermitteln, was sie meint, um sich Gehör zu verschaffen, muss sie nun wesentlich lauter sprechen als es sonst ihre Art ist und: "Früher habe ich nur an meine Rolle gedacht. Heute muss ich andere Rollen oder ganze Gruppen mitdenken. Aber nach so langer Tänzerkarriere ist es nicht komplett neu, was ich jetzt mache. In meinem Herzen war ja klar, dass ich mich nach meiner Karriere weiterhin mit Tanz beschäftigen wollte." Sie möchte ihre Erfahrungen an die Jungen weitergeben. "Nur wenn ich müsste, würde ich etwas Anderes machen", sagt sie.

Aber warum hört sie ausgerechnet jetzt auf zu tanzen, auf dem Höhepunkt ihrer Darstellungskunst? Die Begründung ist so einfach wie brutal und dabei durchaus nachvollziehbar: Ivy Amista war 14 Jahre lang Solistin. Nach 15 Jahren wäre sie unkündbar, weshalb ihr Vertrag nicht verlängert wurde. Damit will man der Überalterung des Balletts vorbeugen und Kosten sparen. Ballettchef Igor Zelensky hat ihre Anstellung als Ballettmeisterin unterstützt. Ihr Vertrag ist befristet auf zwei Jahre. Ivy Amista empfindet das als Chance.

© SZ vom 05.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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