64 Paar Herrensocken an der Wand. Hans-Jochen Vogel staunt. Nur noch eineinhalb Minuten Zeit bis zur Eröffnung der Ausstellung "München 72 - Trainingsplatz einer Demokratie", deren Schirmherr er zusammen mit Ulrike Nasse-Meyfarth ist. Aber das, bitteschön, möge Ausstellungsmacherin Petra Schlie ihm doch noch erklären. Die schwarzen Socken? Sie lassen eine Lücke frei. Die symbolisiert die einzige Frau im 65-köpfigen Organisationskomitee der Olympischen Sommerspiele 1972, Liselott Diem, die Witwe des Mitplaners der Spiele von 1936, Carl Diem. Der wiederum hat seinerzeit den olympischen Fackellauf erfunden, den es auch 1972 in München gab und den es 2012 in London selbstverständlich wieder geben wird.
Dennoch: München 72 sollte ganz anders werden als Berlin 36. So betonte Otl Aicher, verantwortlich für das optische Erscheinungsbild der Münchner Spiele, "daß es alle Farben geben darf, nur nicht Rot. Rot waren die Olympischen Spiele in Berlin unter Hitler 1936. Die Farbe der Cäsaren ist Rot." Blau, Grün, Silber, dazu Gelb und Orange - diese Farben dominierten 1972. Sie prägen die Ausstellung im Bayer-Forum am Münchner Hauptbahnhof. Und sie bestimmen bis heute die Erinnerungsbilder derjenigen, die 1972 in München dabei waren, ebenso wie derjenigen, die nicht mehr genau sagen können, ob sie dabei gewesen sind.
Ralf Nemetschek, Jahrgang 1965, ist so jemand. "Meine Eltern streiten bis heute, ob ich damals mit im Stadion war", sagt der Geschäftsführende Vorstand der Nemetschek-Stiftung, die die Ausstellung zusammen mit dem Verein "Gesicht zeigen!" initiiert hat. Was ist eigene Erinnerung, was sind Bilder aus dem kollektiven Bewusstsein?
Ein solches Bild, eingebrannt in die Erinnerung an München 72, ist das der palästinensischen Terroristen nach dem Überfall auf die israelischen Sportler. Die Ausstellung zeigt es nicht (anders als das ZDF am Montag um 20.15 Uhr, siehe Medienseite) und stattdessen in einer showbühnenartigen Installation den Schriftzug "the games must go on". Und gegenüber an der Wand zwei Seiten aus der Fernsehzeitschrift Hörzu: das Tagesprogramm für den 5. und 6. September 1972. So hätten die Spiele sein können, wollen die Ausstellungsmacher damit sagen. So hätten sie sein sollen: "Heiter, leicht, dynamisch, unpolitisch, unpathetisch, frei von Ideologie, eine spielerische Durchdringung von Sport und Kultur." Otl Aicher hatte das in seinen Richtlinien für die visuelle Gestaltung so festgehalten.
Natürlich war nichts unpolitisch an den Spielen von 1972: Nicht ihre bewusste Abgrenzung von 1936, auch wenn - wie selbstverständlich - die Ankunft der Fackel in München ausgerechnet auf dem Königsplatz inszeniert wurde. Nicht die olympische Premiere einer eigenständigen DDR-Mannschaft unter eigenen Symbolen, gefolgt vom Sieg der bundesdeutschen 4x100-Meter-Staffel der Frauen über das ostdeutsche Quartett. Nicht die transparente Architektur des von Günter Behnisch geplanten Olympiaparks ("Rasen betreten erwünscht" stand auf Schildern - im Englischen Garten war das seinerzeit noch verboten).
Und auch nicht das "Lernprogramm Allgemeines Olympiawissen", dem zufolge die Hostessen die Frage, welche Rolle München im Dritten Reich spielte, so beantworten sollten: "München war nicht nur der Mittelpunkt der nationalsozialistischen Bewegung, sondern auch ein Zentrum des Widerstandes."
Er glaube, sagt Ralf Nemetschek, "dass man anhand dieses Ereignisses viel über Deutschland und die Entwicklung der Demokratie lernen kann". Bei den Bildern - denen in den fünf Ausstellungsräumen wie denen im Kopf - geht es um mehr als nostalgische Erinnerungsarbeit mit Olympiafarben-Waldi-Dackel, grünen Schalensitzen und blauen Hostessen-Dirndln und auch um mehr als das Memorieren sportlicher Erfolge von Athleten wie Ulrike Meyfarth und Klaus Wolfermann. Dafür steht auch das umfangreiche Rahmenprogramm bis zum Ausstellungsende am 26. April, mit Stadtführungen und Zeitzeugengespräche, Konzerte und Podiumsdiskussionen.
Den Auftakt macht am Dienstag, 20. März, die Buchpräsentation "München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland" mit Kay Schiller und Christopher Young (19 Uhr). Die Botschaft hat Hans-Jochen Vogel am Eröffnungsabend umrissen: Demokratie kann nicht nur gelernt werden - sie muss immer wieder trainiert und verteidigt werden.
Die Ausstellung "München 72 - Trainingsplatz einer Demokratie" ist im Bayer-Forum am Münchner Hauptbahnhof zu sehen, direkt an den Gleisen 5 bis 11. Sie läuft bis zum 26. April.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, von 12 bis 20 Uhr. Der Besuch der Ausstellung und der Veranstaltungen des Rahmenprogramms sind kostenlos.
Informationen im Internet: www.trainingsplatz72.de