Ausstellung:Selfies aus bunten Punkten

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Ae Hee Lee verarbeitet ihre Träume und hinterlässt im Kulturhaus Milbertshofen Lichtspuren im Dunklen

Von Nicole Graner

Es ist eindeutig eine Braut, die da inmitten einer kleinen Menschengruppe mit ihrem Bräutigam steht. Man erkennt ihr weißes Kleid und sogar den Schleier. Ob sie glücklich ist? Das ist schwer zu sagen, denn ihr Gesicht, wie der ganze Körper, besteht nur aus ein paar Punkten. Gefühle sind da schwer auszumachen. Und die Braut ist auch nur eine von vielen winzigen Figuren, die auf einem fast zwölf Meter langen Stoffschal im oberen Stockwerk des Kulturhauses Milbertshofen zu sehen ist.

Pünktchen für Pünktchen erzählt Ae Hee Lee aus ihrem Traum-Tagebuch. (Foto: Privat)

Die 36-jährige Ae Hee Lee lacht, als man genau diese Szene auf dem Stoffbild entdeckt. Sie kneift die wachen Augen zusammen und klatscht leise in die Hände, die sie ein wenig wie beim Beten vor das Gesicht hält. Denn für die in Berlin lebende Künstlerin ist sie eine ganz wichtige Erinnerung. Eine von ganz vielen. Und eine, die sie im Traum erlebt hat. Es ist die Hochzeit ihrer besten Freundin in Korea. Dabei sein konnte sie damals nicht. Das hat Lee sehr geschmerzt und schlecht verarbeitet. "Ich habe mich lange Zeit immer schuldig gefühlt, dass ich nicht dabei war", sagt Lee. Im Traum aber hat sie die Hochzeit, wenn man so will, nachträglich erlebt, war dabei - nicht mittendrin, aber als außenstehende Betrachterin. Ae Hee Lee zeigt auf sich, auf "ihre" Figur im Bild, die ebenso winzig ist wie die anderen Menschen und aus Farbtupfen besteht.

In jedem Jahr entsteht eine rote Figur von ihr selbst. Dunkelrote Skulpturen sind Menschen aus ihrer Familie, gelbe Freunde. (Foto: Privat)

Warum sind es Träume, die die Künstlerin zu Tupfenbildern macht, Pünktchen für Pünktchen auf Futter- oder Fahnenstoffen nacherzählt? "Es ist quasi ein Experiment", sagt Lee, "herauszubekommen, an was ich mich erinnern kann, wie viel ich träume und warum." Letztlich ist es auch der tiefe Wunsch, sich selbst nachzuspüren, das eigene Sein zu hinterfragen und die Veränderung der Identität zu dokumentieren. Lee macht jeden Tag ein Traumprotokoll. 20-mal-20-Zentimeter-Quadrate bepünktelt sie. Und während sie das tut - den ersten Punkt aufdrückt, ihn trocknen lässt und den zweiten Tupfer nachsetzt - erinnert sie sich wieder, will sich erspüren, den Traum "nochmals fühlen", wie Lee sagt, und kommt zur Ruhe. Ein meditativer Prozess also, der in der Erkenntnis mündet, sich als Mensch und als Person schnell zu verändern, durch äußere Einflüsse und tief gehende Erlebnisse einem steten Wandel unterworfen zu sein.

Ae Hee Lee. (Foto: Privat)

Das mag sicher keine neue Erkenntnis sein, aber der tief ausgeprägte Wunsch der 36-Jährigen, stets in sich hineinzuschauen, hängt eng mit ihrer Biografie zusammen. 1982 ist die Künstlerin im südkoreanischen Seoul geboren. Bereits mit sechs Jahren weiß sie, so erzählt sie, dass sie Künstlerin werden will. Von 2001 bis 2006 studiert sie an der Kyungwon University of Art. Nur ein Jahr später entscheidet sie sich für ein Leben fern der Heimat und kommt 2007 nach Deutschland, studiert noch einmal an der HBK in Braunschweig. In Berlin ist Lee seit 2011. "Ich habe mich so verändert in dieser Zeit", sagt Lee. "Bin eine andere geworden." Nicht nur weil sie Currywurst und Schweinshaxen liebt, sondern auch weil sie zwar eine neue Heimat bekommt, aber die alte vermisst. Vor allem ihre Familie. Zugleich ist es ein Gewinn, frei künstlerisch zu sein, aber ein Verlust, Geliebtes hinter sich zu lassen. Die Reibung der beiden Erfahrungen muss sie verarbeiten. Ihre Träume, die sie seit 2014 zu ihren Bildern macht, helfen ihr dabei. Kunst als Heilmittel also.

Auf langen Stoffbahnen gibt sie Geschichten aus dem Unterbewusstsein preis. (Foto: Privat)

Im Kulturhaus sind ausschließlich "Dream Records" zu sehen. Manchmal bizarr anmutende Landschaften mit Bäumen und Hügeln, die Gebäude großer Städte und viele Menschen: mal in Bewegung, mal statisch, aber immer nach einem gleichen Pünktchenschema. Einem klaren Farbmuster hat Ae Hee Lee alles unterworfen, wie auch einer klaren Struktur. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, Punkt für Punkt und akribisch kreiert sie, manchmal auf vorskizziertem Stoff, ihre Träume und Fantasiegebilde. "Ich brauche die Ordnung", sagt Lee. "Ich kann nicht anders." Heißt nicht, dass die Arbeiten keine Emotionen frei machen würden. Im Gegenteil. Ihr Punktesprache ist sehr poetisch. Vor allem dann wenn die fluoreszierenden Acrylfarben mit Schwarzlicht angestrahlt werden. Wie zart wirken die Punkte plötzlich, fast dreidimensional Menschen und Häuser. Aus der Dunkelheit "erhebt" sich Neues, die Wirklichkeit. Wer kein Pünktchensammelsurium entdecken will, sondern Bilder, muss aus der Entfernung auf die Schals blicken. Dann werden sie erlebbar.

Ae Hee, was so viel bedeutet wie die "Liebe erscheint", hat in allen ihren Arbeiten den Anspruch, sich ihrer selbst immer neu bewusst zu werden. Ob mit Traumbildern oder kleinen roten Figuren ("Lebensprojekt"), die sie jedes Jahr von sich macht. Und sie hat den Anspruch, in zwei Welten zu Hause zu sein. Einmal im Jahr fährt sie nach Korea. Sie muss ihre Familie sehen, nicht nur am Telefon hören. Sie muss sie bei sich haben. Sei es im Traum. Im Januar ist es wieder so weit. Dann ist sie wieder in Korea und erlebt wieder eine Hochzeit. Die ihrer Schwester. Und die, die will sie keinesfalls versäumen.

"Dream Code 1706": Vernissage am Samstag, 17. November, 19 Uhr, Kulturhaus Milbertshofen, Curt-Mezger-Platz 1. Einführung Diana Koch und Musik von Cataldo Mocciaro. Zu sehen bis 17. Dezember, täglich außer Montag, 12 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung.

© SZ vom 17.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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