Es geschah auf einer Klassenfahrt, ausgerechnet in seinem Paris. In der Stadt der schönen Künste, deren Hinterhöfe er als Jugendlicher erkundet hatte und deren Aura er so sehr liebte, erleidet Fabian Wilken 2008 einen schweren Gehirninfarkt. An einem Ort, an dem er zur Schule gegangen war und Freundschaften geschlossen hatte, die viele Jahre überdauern sollten. Im Fall von Jasmin Totschnig bis zu seinem Tod im August 2018.
Ein knappes Jahr später steht Totschnig im Gemeindezentrum der Hoffnungskirche in Freimann. Sie legt den Kopf schief, dann tritt sie einen Schritt auf ein Sideboard zu und rückt darauf zwei Bilder zurecht - die gehörten enger zusammen, sagt sie. Die Fotografin und Vorsteherin der Kirchengemeinde Freimann hat 40 Gemälde und elf Fotografien von Berlin, wo Wilken zuletzt lebte, nach München geholt. Noch einige Male wird sie Hand anlegen, die abstrakten Gemälde des Schulfreundes sollen ihr Potenzial in Farbe und Komposition voll entfalten. "Dekade - Fabian Wilken", heißt die Ausstellung, die noch bis zum 3. Juni in der Hoffnungskirche am Carl-Orff-Bogen 217 zu sehen ist.
Die beiden lernen sich an der Deutschen Schule in Paris kennen. In der dritten Klasse, nach den Pfingstferien 1981, kam Wilken neu dazu. "Der Platz neben mir war noch frei", sagt die Münchnerin, "und da hat sich der Fabian neben mich gesetzt." Erst nach dem Abitur 1990 wird Wilken nach Deutschland zurückkehren, er studiert Französisch und außerdem Bildende Kunst und Kunstwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin (HdK). Seinem damaligen Professor, Martin Rupprecht, fällt sein Talent auf. Er überlegt, ob er Wilken nicht zu einer Karriere in der Kunst ermutigen solle. Doch Wilken wird Lehrer, zuletzt ist er Studienrat an einem Gymnasium in Hannover. Künstlerisch tätig war er zwar auch vor dem Unfall, dennoch wollte Jasmin Totschnig bewusst Arbeiten zeigen, die in den zehn Jahren nach dem Gehirninfarkt entstanden sind. Die Fotoserie zum Bau eines Rehabilitationszentrums für Körperbehinderte in Berlin-Frohnau, besonders aber Wilkens Gemälde. Denn diese seien es, die sie berührten.
Wilken ist 37 Jahre alt, als er in Paris auf der Straße umkippt. Seither war seine rechte Körperhälfte gelähmt: Er saß im Rollstuhl, das Sprechen fiel ihm schwer, oft versagte die Sprache ihm ganz, seine rechte Hand konnte er nicht mehr bewegen. Vom Malen hielt ihn das nicht ab, der einstige Rechtshänder führte Spachtel und Pinsel nun eben mit der linken Hand, aus dem Rollstuhl heraus. "Die Kunst gibt mir Sinn und ist mein Ziel", zitiert Totschnig den Freund. Und ja, sie glaube ganz fest, dass die Malerei ihn gewissermaßen am Leben gehalten habe.
Die Kunst als Ziel, das lässt auf einen Menschen schließen, der einen schier unbändigen Willen aufgebracht haben muss, um sein Handicap an der Leinwand zu bezwingen. Bei dem der innere Kritiker aber auch mal lospoltern konnte, wenn Formen und Farben nicht so zueinander fanden, wie er es gerne gehabt hätte. Noch im Krankenhaus in Paris beginnt Wilken wieder zu malen, mit geschlossenen Augen. "Das ist zwar wildes Krickelkrakel, aber man erkennt nebeneinander stehende Blumen", sagt Totschnig. Auch in Berlin, wo seine Mutter lebt und wohin er nach dem Gehirninfarkt zurückgeht, fließen in seine Bilder zunächst Naturmotive ein. Dinge, die er beim Blick aus dem Fenster seines Pflegeheims gesehen haben muss, so erklärt es sich Totschnig: Bäume mit ungenauen Konturen, manchmal auch ganze Wälder lösen sich aus Landschaften heraus. Später wendet sich Wilken der Abstraktion zu.
Immer größere Freiheiten erlaubt er sich nun, betreibt ein lustvolles, energiegeladenes Spiel mit den Farben, die er manchmal so dick aufträgt, dass sie an der Oberfläche bersten. Fast so, als wollte er mit den winzigen Rissen jene Kraft freisetzen, die seine Arbeit befeuerte. Dann wiederum schält sich das Motiv des Halbkreises vor knalligem Pink und Blau heraus. "Sehen Sie, da hat er doch komplett ausgeholt", sagt Totschnig und zieht den linken Arm durch die Luft.
Sie habe oft mit ihm diskutiert, über die Gesellschaft und die Politik, manchmal auch darüber, was er denn nun mit diesem oder jenem Bild sagen wolle. Sie verstehe das einfach nicht. "Ja musst du ja auch nicht", habe Wilken dann entgegnet. Der Gehirninfarkt brachte zwar einen Teil seines Körpers zum Erliegen, seinem Schaffensdrang aber konnte der Unfall nichts anhaben. Hunderte Bilder, sagt Totschnig, seien in den Jahren nach Paris entstanden. Er hütete sie in seinem Schrank, für Kleider sei da kaum mehr Platz gewesen.
Totschnig erinnert sich an ein Treffen am Tag nach der Trump-Wahl, im November 2016. Wilken habe sich fürchterlich aufgeregt. Zu seinem Geburtstag im April 2018 telefonieren die Freunde. Telefonate seien immer schwierig gewesen, sagt Totschnig, oftmals durchsetzt von Pausen. Doch bei diesem letzten Gespräch habe es auffällig gut funktioniert, sagt sie und wird ein wenig leise. Die Arbeit an der Ausstellung war für sie auch ein Weg, ihre Trauer zu bewältigen. Sie trieb Sponsoren auf, erstellte einen Katalog, diskutierte mit Wilkens Mutter, welche Bilder denn nun gezeigt werden sollen - und welche nicht. "Ich habe ihm die Ausstellung versprochen", sagt Totschnig. Nicht als Freundschaftsdienst, natürlich. Sondern einfach, weil sie von seiner Kunst überzeugt sei.