Ausnahmezustand:Noten, Noten, Noten

Lesezeit: 2 min

Die Söhne der Schreiners waren gute Schüler. Dann: eine Sechs im Zeugnis. Geht's noch?

Von Martina Scherf

Familie Schreiner ( Name geändert) wohnt im Münchner Umland. Eigenes Haus mit Garten, der Vater arbeitet als IT-Systemberater im Home-Office, die Mutter ist halbtags in der Berufsberatung tätig. Zwei Söhne haben sie, zwölf und 15 Jahre alt, mitten in der Pubertät. Beide gehen aufs Gymnasium, beide waren bisher gut in der Schule. Doch mit dem ersten Lockdown begannen die Probleme.

Die Anfangsschwierigkeiten mit der bayerischen Lernplattform Mebis sind bekannt. Sie funktionierte monatelang nicht richtig. Manche Lehrer seien daraufhin erst einmal abgetaucht, sagen die Schreiners. Und als es dann besser lief, habe der Unterricht hauptsächlich daraus bestanden, Arbeitsblätter zu verschicken. Noch immer sei keine verlässliche Organisation zu erkennen, sagt Markus Schreiner. Noch immer sei das Wlan in der Schule nicht stark genug, damit Online-Unterricht für alle funktioniere. Am Wochenende würden E-Mails der Lehrerinnen und Lehrer eintrudeln, was die Schüler am Montag erwarte. Distanz oder Präsenz, Video oder Arbeitsblätter, es sei ein ständiges Hin und Her. "Erst seit ein paar Wochen gibt es so etwas wie einen Kalender", sagt der Vater. Als IT-Experte kann er darüber nur den Kopf schütteln.

"Das Durcheinander zerrt an den Nerven", sagt die Mutter, "bei Schülern, Eltern und Lehrern." Ihr jüngerer Sohn sei mit der Zeit in eine "totale Blockade" gefallen. Sie machten sich ernsthaft Sorgen. Die Schulpsychologin sagte: "Passen Sie auf, dass er nicht depressiv wird." Dann kam eine Mathe-Schulaufgabe, die einzige im Halbjahr, und er bekam eine Sechs. "Er war am Boden zerstört", erzählt seine Mutter. Dass diese Sechs aber auch im Halbjahreszeugnis stehen würde, damit hätte sie nicht gerechnet - wo es doch nur eine einzige Schulaufgabe gegeben hatte. Das Zeugnis wurde online verschickt, sie zeigten es ihrem Sohn erst gar nicht. Erst nach einem Gespräch mit einer Ärztin, die ihm attestierte, dass er nicht depressiv sei, hätten sich alle etwas beruhigt. "Als er dann das Zeugnis sah, hat er bitterlich geweint", sagt seine Mutter. Aber er war auch erleichtert, darüber sprechen zu können.

"Es geht in der Schule nur um Noten", sagt der Vater. Wochenlang falle der Unterricht aus, dann würden ganz schnell hintereinander Schulaufgaben geschrieben. "Wir befinden uns seit einem Jahr in einem absoluten Ausnahmezustand, aber die Kinder müssen funktionieren, als ob nichts wäre." Und niemand wisse, wie es weiter geht.

Auch der ältere Sohn, der sich anfangs leicht getan habe, sei nach einem Jahr nicht mehr motiviert. Es fehlt ihm Feedback von den Lehrern, sagt er. Da kämen Arbeitsaufträge: Lies dir die Definition im Buch durch, beantworte die Fragen dazu. Und dann werde die Arbeit nicht mal besprochen. Oft sagten Lehrer: Steht alles auf Mebis. Dann müssten die Schüler suchen, in welchem Tool sich die Informationen welchen Lehrers verberge.

In einem Nebenfach musste der Jüngere ein Videoreferat halten, mit Powerpoint-Präsentation. Als Zwölfjähriger, zum ersten Mal. "Welcher Erwachsene kriegt das denn so einfach hin, vor der Kamera zu sprechen?", sagt der Vater. Das Kind hatte Angst, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. "Da rief ich die Lehrerin an, doch sie drohte, wenn er das nicht mache, müsse sie ihm eine schlechte Note geben. Da versagte mir die Stimme", erzählt die Mutter.

Dass die Jungs nicht wie früher einfach mit ihren Kumpels raus konnten, um herumzutoben, habe die Situation schier unerträglich gemacht. "Wir spüren alle einen Lagerkoller", sagt die Mutter. Ein paar Mal sei der Kleine auf den Basketballplatz gegangen. Als er nach Hause kam, erzählte er, die Polizei hätte sie alle halbe Stunde kontrolliert, "mit Waffe im Gürtel". Und wie sehr sie ihre Großeltern vermissten, bei denen sie früher oft übernachtet hätten, sei deutlich geworden, als sie sich jetzt, nach Monaten, wieder gesehen hätten. "Mein Sohn hat den Opa minutenlang umarmt."

© SZ vom 06.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: