Asyl:Schicksale, die man nie vergisst

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Birgit und Viktor Kullmann aus Unterföhring blicken auf die Ankunft von Flüchtlingen in den Neunzigerjahren zurück.

Von Sabine Wejsada

Vor 25 Jahren standen die Kommunen im Landkreis München schon einmal vor der Herausforderung, Hunderte von Asylbewerbern unterzubringen und zu betreuen. Birgit und Viktor Kullmann aus Unterföhring haben sich in der Stadtrandgemeinde um bis zu 130 Flüchtlinge gekümmert, die in einem ehemaligen Bürogebäude wohnten. Vor allem die Kinder lagen dem Ehepaar am Herzen. Im Interview mit der SZ sprechen die Kullmanns über ihr Engagement und spannen den Bogen zur aktuellen Situation.

SZ: Wie sind Sie zur Flüchtlingshilfe gekommen?

Birgit Kullmann: Ich habe bereits 1988 einen Vortrag von Amnesty International gehört, in dem es um Flüchtlingslager in Afrika sowie Fluchtursachen ging - und darum, was bedeutet es, ein Flüchtling in unserem Land zu sein. Das Thema hatte mich nicht mehr losgelassen und sehr betroffen gemacht. Schon kurz danach ist in mir der Entschluss gereift, dass ich etwas tun will. Und da zu dieser Zeit auch bei uns im Landkreis schon Flüchtlinge untergebracht waren, habe ich Kontakt mit dem Landratsamt aufgenommen. Meine erste Berührung mit geflohenen Familien war in einer Unterkunft in Kirchheim.

Woher stammten diese Menschen?

Birgit Kullmann: Sie kamen aus Afghanistan und dem ehemaligen Ostblock. Damals waren dort in Kirchheim viele Kinder, deren Schicksal mich sehr mitgenommen hat. Also haben wir eine Aktion gestartet und in Absprache mit dem Landratsamt Spielsachen gesammelt. Die Resonanz nach dem Aufruf in der Unterföhringer Schule war immens.

Wann ging in Unterföhring die Arbeit los?

Birgit Kullmann: Ein Jahr später etwa rief mich der damalige evangelische Pfarrer Leo Volleth an und fragte mich, ob ich schon wüsste, dass gut hundert Flüchtlinge angekommen seien. Und er sagte zu mir: Du kennst dich ja aus - und schon stand ich mittendrin.

Was waren das für Flüchtlinge?

Birgit Kullmann: Familien mit Kindern im Alter von sechs Monaten bis 17 Jahren und alleinstehende Männer aus Somalia, Nigeria, Bosnien, Serbien, Russland, Rumänien, Albanien, Iran und Afghanistan. Also sind mein Mann und ich los und haben uns ein Bild gemacht, das wir nicht mehr losgeworden sind, weil das Haus so trostlos war und Familien auf engstem Raum lebten. Es war September und kalt; die Menschen hatten nichts und wir sammelten Kleidung, Schuhe und Spielsachen. Die blauen Säcke mit den Sachen haben wir in die leeren, dunklen Flure gestellt und an alle Zimmertüren geklopft. Zuerst passierte nichts und dann guckten auf einmal die Kinder ganz scheu um die Ecke, kamen und schauten in die Säcke rein, obenauf lagen die Spielsachen. Jedes Kind nahm sich ein Spielzeug und verschwand wieder im Zimmer.

Viktor Kullmann: Das war schon gespenstisch. Über hundert Menschen, die sich schließlich an die blauen Säcke trauten.

Sie haben die Aktion allein gemacht?

Birgit Kullmann: Ja, zunächst schon. Aber dann haben wir uns Verstärkung geholt von der Kirche und der Nachbarschaftshilfe, in der ich engagiert war. Schließlich haben wir uns zu zehnt zusammengetan und einen Arbeitskreis gegründet. Zuerst haben wir versucht, die Sprachbarrieren abzubauen, die Menschen aus dem Osten sprachen zum Teil nur wenig Englisch; die Afrikaner zumindest Französisch. Also haben wir Deutschkurse organisiert, zusammen mit einer Lektorin aus unseren Reihen. Auch die Residenzpflicht bereitete große Probleme, die Flüchtlinge durften die Landkreisgrenze nicht überschreiten. Wenn ich jemanden zum Arzt bringen musste, brauchte es eine Genehmigung vom Landratsamt, ebenso wenn wir mit den Kindern Ausflüge in den Tierpark machen wollten.

Birgit Kullmann war vor 25 Jahren zusammen mit ihrem Mann in der Flüchtlingshilfe in Unterföhring aktiv. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Waren die Vorgaben damals rigider, als es heute der Fall ist?

Birgit Kullmann: Ja, waren sie. Denken Sie nur an das fünfjährige Arbeitsverbot für Asylbewerber...

Viktor Kullmann: ...oder die wurden damals viel rigider ausgelegt.

Birgit Kullmann: Stimmt. Es war viel komplizierter als aktuell. Wir hatten sehr viele traumatisierte Kinder in der Unterkunft und stellten uns die Frage, wie wir an sie rankommen könnten. Die Kinder waren ja auch Vermittler zwischen uns und den Eltern, weil sie zur Schule gingen und die Sprache schon etwas gelernt hatten. Es bestand eine Zusammenarbeit mit Refugio und zum Glück habe ich einen Therapeuten kennengelernt, der gute Erfahrungen mit einer Maltherapie hatte - und so eine haben wir dann organisiert und schnell einen Raum für die Kinder eingerichtet.

Viktor Kullmann: Es ging nur über Eigeninitiative. Wir haben alles selber besorgt: Möbel, Papier, Farben, Stifte.

Gab es keine Unterstützung von oben?

Birgit Kullmann: Die finanzielle Unterstützung kam von beiden Kirchengemeinden. Und von der politischen Gemeinde, wenn wir etwas angefragt haben. Diese alltäglichen Dinge wurden alle von uns erledigt.

Viktor Kullmann: Die Spenden waren zunächst klein, gingen nicht über 400 Mark.

Birgit Kullmann: Natürlich haben wir vom Christkindlmarkterlös, auf dem wir immer mitgearbeitet hatten, auch Geld bekommen. Doch die Arbeit lag in unseren Händen. Wir waren für alles zuständig. In der Unterkunft gab es nur einen Hausmeister, der überlastet war, und keine Sozialbetreuung. Wir haben Behördengänge gemacht, mit Rechtsanwälten gesprochen. Das Bürogebäude war nur notdürftig mit Duschen und einer Gemeinschaftsküche eingerichtet, die hygienischen Verhältnisse katastrophal. Die Familien hielten immer alles sauber und beschwerten sich, dass sich die Alleinstehenden nicht darum kümmerten. Irgendwann ist es mir dann zu dumm geworden.

Sie haben die Männer putzen lassen?

Birgit Kullmann: Ja, ich habe Eimer und Putzmaterial besorgt und die Männer putzen lassen. Was sie auch brav getan haben.

Viktor Kullmann: Es gab keine Organisation, keine Struktur wie heute. Die Menschen waren auf sich allein gestellt - und wir waren es auch. Das ist heute anders, wenn man sich die Professionalität der Betreuung und der Unterstützung ansieht.

Birgit Kullmann: Die Essenspakete vom Landkreis waren ein Problem. Zu wenig Vitamine für die Kinder, zu viel Öl und Reis. Sie hatten einen Wert von etwa 30 Mark. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass diese Pakete abgeschafft werden sollten.

Um die Versorgung dann wie zu organisieren?

Birgit Kullmann: Die Pakete blieben, da war nichts zu machen. Doch dann haben wir gesagt, wir organisieren Gutscheine im Wert von 30 Mark. Ich bin in den Einkaufsmarkt gegenüber und habe verhandelt, dass die Bewohner der Unterkunft dafür alles einkaufen können, außer Alkohol und Zigaretten. Und es gab kein Rückgeld. Sie waren angehalten, Vitaminreiches und Gesundes zu kaufen.

Wie haben Sie das finanziert?

Blick ins Fotoalbum: Als in den Neunzigerjahren Flüchtlinge nach Unterföhring kamen, wurde auch gemeinsam gefeiert und gelernt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Birgit Kullmann: Durch Spenden. Der Einkaufsmarkt war sehr kooperativ, es hat funktioniert. Die Flüchtlinge haben sich so etwas Eigenständigkeit erhalten können.

Wie haben die Unterföhringer damals auf die neuen Nachbarn reagiert?

Birgit Kullmann: Gut. Wir haben Feste gefeiert und offensiv Öffentlichkeitsarbeit betrieben; ich habe Vorträge bei der VHS gehalten. Wir wollten die Bevölkerung sensibel machen für dieses Thema.

Viktor Kullmann: Aber es brauchte schon Überzeugungskraft.

Birgit Kullmann: Natürlich gab es auch Anfeindungen. Das musste man schon aushalten können, wenn Drohbriefe im Briefkasten liegen, die wie im Krimi aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt sind.

Wie haben Sie reagiert?

Birgit Kullmann: Wir haben uns darüber hinweggesetzt. So viele Menschen waren uns ans Herz gewachsen und die brauchten uns, vor allem die Kinder.

Viktor Kullmann: Diese Briefe waren eher stimulierend zum Weitermachen.

Birgit Kullmann: Das hat auch an den Beziehungen zu den Menschen gelegen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Da gibt man nicht so einfach auf. Es gab etwa eine junge Frau aus Rumänien, deren Vater Repressalien des Ceaușescu-Regimes ausgesetzt war und die schwer an Diabetes litt. An Insulin war kaum zu kommen, einmal musste sie sich ein bereits abgelaufenes Präparat spritzen, was arge Folgen für ihre Augen hatte. Die Frau schaffte es irgendwie nach Deutschland und wir haben es geschafft, dass sie eine Augen-OP bekam, nach der sie wieder etwas sehen konnte. Noch heute sind wir mit ihr in Kontakt. Sie lebt und arbeitet wieder in München und hat die deutsche Staatsbürgerschaft.

Wie haben Sie die Belastung ausgehalten?

Birgit Kullmann: Die Arbeit wurde immer komplexer. Es hat Jahre gedauert, bis unsere Schreiben an das Sozialministerium Widerhall fanden und uns eine Halbtagskraft zur Seite gestellt wurde. Trotzdem lastete weiter viel auf den Schultern der Ehrenamtlichen. Wir haben alles abgedeckt, waren Begleiter zu Terminen bei Anwälten und Behörden. Ich war auch Trauzeugin bei einer Hochzeit und habe Kommunionen mitgemacht.

Woher haben Sie die Energie genommen?

Birgit Kullmann: Wir sind beide sehr christlich sozial eingestellt. Daraus kann man seine Kraft holen. Und der Rückhalt in der Familie ist sehr wichtig.

Viktor Kullmann: Und wenn man ein Kind sieht, das traurig war und nun glücklich ist, ist das einfach wunderbar.

Die Unterkunft wurde 1998 aufgelöst.

Birgit Kullmann: Es gab viel Unruhe bei den Bewohnern. Einige Asylbewerber waren anerkannt, bei anderen schwebte das Verfahren und wieder andere mussten zurück. Es war eine Katastrophe für die Menschen. Aber wir konnten nicht ändern, dass das Haus geschlossen wird. Die Unterbringung wurde zentralisiert, die Flüchtlinge auf andere Standorte in München verteilt. Wir konnten den Menschen nur versprechen, dass wir uns weiter kümmern.

Vor allem um Kinder der Flüchtlingsfamilien haben sich Birgit und Viktor Kullmann gekümmert. Zu einigen haben sie heute noch Kontakt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wie sah das konkret aus?

Birgit Kullmann: Es gab eine Familie aus Rumänien. Mutter und Vater, beide hatten gearbeitet und eine Wohnung. Die Tochter ging gerade in die Realschule, doch dann kam der Bescheid, dass sie vor Weihnachten abgeschoben werden, wir haben verhandeln können, dass sie bis zum Zwischenzeugnis bleiben durften. Die Eltern fragten uns, ob wir das Kind adoptieren würden, damit es bleiben darf. Doch das wollten wir nicht. Wir sagten zu, uns weiter zu kümmern. Zu unserer aller Freude haben die Eltern es ermöglicht, dass das Kind weiter Deutsch lernt. Das Mädchen hat Abitur gemacht und studierte Jura, um Rechtsanwältin zu werden. Irgendwann kam ein Anruf: Sie sei bei einem Ausflug in München. Am Ende hat sie ein Stipendium zum Studieren in München bekommen.

Spannen wir den Bogen zu heute: Wie erleben Sie das Flüchtlingsthema?

Birgit Kullmann: Vieles hat sich geändert. Die Unterstützung ist ganz anders, die Versorgung der Menschen gesichert. Damals haben einige von uns gesagt, wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Doch an den Fluchtursachen hat sich nichts geändert. Wenn man jetzt auf Syrien und den Jemen schaut, wo unglaubliches Leid herrscht. Das treibt Menschen aus ihrer Heimat, doch genau die jungen Menschen werden gebraucht in ihrem Land. Die Kinder sind immer die Schwächsten in der Kette.

Sind Sie heute noch engagiert?

Viktor Kullmann: Nach zehn Jahren intensiver ehrenamtlicher Arbeit wollten wir uns wieder stärker der Familie widmen.

Birgit Kullmann: Ich habe zwei Enkelkinder, für die ich da sein möchte. Aktiv in der Flüchtlingsarbeit bin ich nicht mehr, aber natürlich verfolge ich das aktuelle Geschehen. Und ich habe meine Erfahrungen gerne geteilt, bevor die Flüchtlinge in Unterföhring ankamen. Kinder unterstütze ich nach wie vor. Es geht weiter, es hört ja nicht auf. Der Blick bleibt geschärft.

Viktor Kullmann: Gewürdigt wurde deine Arbeit ja spät...

Birgit Kullmann: Als ich 2014 die Bürgermedaille bekam, habe ich sehr mich gefreut. Und ich war äußerst gerührt. Denn es kommen die Bilder von damals wieder. So etwas vergisst man nicht.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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