Abwassernetz:17 Stufen in den Münchner Untergrund

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Ein gigantisches Bauwerk aus Ziegeln zieht sich durch den Münchner Untergrund. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Lange galt München als stinkendes Drecksloch, die hygienischen Zustände waren verheerend - bis vor 125 Jahren der Ausbau des Kanalnetzes richtig losging. Ein Besuch im Gedärm der Stadt.

Von Thomas Anlauf

Es sind nur 17 Stufen bis zum Gedärm der Stadt. Eine enge Wendeltreppe führt hinab in die Zwielichtzone, ein paar Meter oberhalb staut sich der Feierabendverkehr auf der Autobahn nach Norden. Hier unten ist es feucht, dicke Tropfen kleben wie Quallen an der schwarzen Decke, die hin und wieder auf den Kopf tropfen.

An einem fleckigen Stahlträger hängen schleimige Fäden. Ein fauliger Geruch hängt in der Luft, er kommt von weiter unten, sechs Meter unter der Oberfläche: eine Säulenhalle, erleuchtet von gelben Strahlern. Am Boden steht die braune Brühe bis zu den Stufen. Es ist eine spezielle Münchner Mischung aus Regen- und Abwasser, die da so stinkt.

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"Wir haben in München ein Mischsystem: ein großes Rohr für Regen und Abwasser", sagt Bernhard Böhm. Der Betriebsleiter der Stadtentwässerung steht an diesem März-Nachmittag mit einer Gruppe Interessierter im Halbdunkel der Kanalisation, knapp oberhalb des riesigen Regenüberlaufbeckens am Ende der Autobahn A 9.

Weiter vordringen kann Böhm nicht mit den Teilnehmern des Münchner Forums, das zum Weltwassertag die Führung organisiert hat; die Niederschläge der vergangenen Tage haben die Säulenhalle zum Teil geflutet. Deshalb steigt Böhm ein paar hundert Meter weiter östlich an der Ungererstraße in einen anderen Schacht, den alten Jägerkanal unter dem Nordfriedhof. Eine Kuppel aus Ziegeln wölbt sich über die viereinhalb Meter hohe Halle, durch die zwei Kanäle laufen.

Der eine führt nach Norden, bis er am Klärwerk endet. Der andere verläuft im Stockdunkeln in einer großen Rechtskurve unter dem Nordfriedhof hindurch bis zur Isar. Die Kanäle stammen noch aus der Anfangszeit der Münchner Kanalisation, Ende des 19. Jahrhunderts sind sie entstanden. Dass sie gebaut wurden, ist einem Münchner Arzt und Apotheker zu verdanken: Max von Pettenkofer.

Bernhard Böhm von der Stadtentwässerung. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der Begründer der Hygieneforschung, vor 200 Jahren, am 3. Dezember 1818, in Neuburg an der Donau geboren, wurde bereits als 35-jähriger Universitätsprofessor zu Hilfe gerufen, als in München 1854 die Cholera ausbrach. Er war überzeugt davon, dass die hygienischen Zustände in München maßgeblich an der Epidemie schuld waren - München galt bis dahin als stinkendes Drecksloch.

Es gab keine Kanalisation, Abwässer und Abfälle wurden einfach in Sickergruben oder in die vielen Stadtbäche gekippt. "Es waren katastrophale Verhältnisse", sagt Ingenieur Böhm. Pettenkofer war klar, dass München nur dann wirklich gesunden könne, wenn es drei Maßnahmen ergreift: frisches Trinkwasser aus dem Voralpenland in die Stadt heranschaffen, das Abwasser geregelt ableiten und einen zentralen Schlachthof bauen, damit die Kadaver nicht mehr überall in der Stadt verteilt wären.

Böhm führt eine Gruppe hinab in den alten Jägerkanal. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der junge Architekt Arnold Zenetti wurde daraufhin nach Hamburg entsandt, um das dort schon existierende Kanalnetz zu studieren. Zurück in München baute er zunächst 25 Kanäle in der Münchner Innenstadt. Das verbesserte die hygienischen Verhältnisse in der wachsenden Stadt bereits, doch dann brach 1873 erneut die Cholera aus - und Pettenkofer konnte die Pläne für eine groß angelegte Kanalisation der Stadt endlich umsetzen.

Der britische Ingenieur James Gordon, der bereits einschlägige Erfahrungen auf dem Gebiet vorweisen konnte, wurde angeheuert, um einen Gesamtentwässerungsplan für München zu erstellen. Da Solln im Süden etwa 90 Meter höher als Freimann im Norden liegt, konnte in München die kostengünstigere Schwemmkanalisation eingeführt werden, bei der Regenwasser den Dreck einfach fortspült. Doch erst 1893, vor 125 Jahren, ging es mit dem Ausbau des Münchner Kanalnetzes richtig los.

Sämtliche Abwässer der Stadt wurden nach Norden geleitet und landeten in der Isar - ungeklärt. Der ganze Dreck floss an Freising und Landshut vorbei, was natürlich wütende Proteste hervorrief. Hier hatte sich Pettenkofer geirrt: Er hatte geglaubt, dass die Isar die Münchner Kloake schon ausreichend verdünnen würde. Doch es dauerte bis 1926, dass die Kläranlage Großlappen in Betrieb genommen wurde. Später kam noch das Gut Marienhof bei Eching dazu.

Bei Hochwasser reichen die Münchner Kanäle allerdings nicht aus, um die Wassermassen gereinigt abzuleiten, dann rauscht das Wasser auch wieder durch die eigentlich vor drei Jahrzehnten stillgelegten Kanäle wie den Jägerkanal direkt in die Isar. Wenn es mal vorkommt, dass aus den Straßengullys eine braune Brühe nach oben schwappt, liegt das also nicht daran, dass die Kanalisation der schnell wachsenden Stadt nicht mehr gewachsen ist.

Denn das meiste Abwasser stammt nicht aus Münchner Haushalten, sondern von Niederschlägen. Selbst ein Großereignis wie das Oktoberfest fällt im Gedärm der Stadt kaum auf. Bernhard Böhm, Herr der Münchner Kanäle, lacht: "Was die auf der Wiesn bieseln, ist leicht zu verkraften."

© SZ vom 24.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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