Geschichte:Impressionen aus einer Zwischenwelt

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Die Ausstellung "Wohnlager um Karlsfeld zwischen 1940 und 1960" erinnert an Zwangs- und Fremdarbeiter des NS-Regimes und die Heimatvertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Baracken aus der Nazizeit unterkamen

Von Gregor Schiegl

Karlsfeld/Allach/LudwigsfeldAn die Flucht aus Ostpreußen kann sich Günter Meikis kaum noch erinnern, nur ans Ankommen. Er war gerade mal drei Jahre alt, als seine Familie Unterschlupf fand im Lager 3. Die Barackensiedlung gehörte zum ehemaligen Außenlager Allach des Konzentrationslagers Dachau in der heutigen Siedlung Ludwigsfeld. Nach Kriegsende wurde sie für Flüchtlinge umfunktioniert. "Uns wurde eine Ecke zugewiesen - meiner Mutter, meiner Großmutter und meinen Geschwistern; da war auch nichts abgeteilt", erinnert sich der mittlerweile 73-jährige Karlsfelder. Später durften sie ins Würmlager umsiedeln. Diese Baracken waren aus Stein. "Es war komfortabel, mit fließend Wasser, warm und kalt, und mit richtigen Toiletten." Zur Schule ging der kleine Günter ins Gasthaus "Zur Lüfte". Um zwölf Uhr klopften die ersten Kneipenbrüder an den Gastraum und wollten rein. Vater Meikis arbeitete im "Karlsfeld Ordnance Depot" bei BMW in Allach, wo die Amerikaner nach Kriegsende ihre Militärfahrzeuge reparieren und warten ließen.

Die ersten Jahre in den Barackenlagern um Karlsfeld sind ein prägendes Kapitel in der Familiengeschichte vieler Karlsfelder und Allacher, eine Interimswelt zwischen alter und neuer Heimat. Ein Wendepunkt. Das erklärt vermutlich, warum die Sonderausstellung mit dem unspektakulären Titel "Wohnlager um Karlsfeld zwischen 1940 und 1960" bei der Eröffnung im Heimatmuseum der benachbarten Gemeinde Karlsfeld einen wahren Besucheransturm erlebte. "Es war der Irrsinn", sagt Ilsa Oberbauer, die Leiterin des Heimatmuseums. "Es war wie auf einem Klassentreffen."

Die Erinnerungen sind noch lebendig, aber von den alten Wohnlagern ist fast nichts geblieben, ein Großteil der Flächen ist im Firmengelände der Großbetriebe MAN und MTU aufgegangen. Oder es stehen große Wohnblöcke darauf wie in der Gerberau oder der Siedlung Ludwigsfeld. Was es an alten Fotos und Dokumenten noch gibt, hat der Archivar des Münchner Stadtteils Hasenbergl, Klaus Mai, in akribischer Arbeit für die Sonderausstellung zusammengetragen. Bei seinen Recherchen hat Mai Anhaltspunkte gefunden, dass sich in der Siedlung Ludwigsfeld Massengräber von NS-Opfern befinden könnten. Bodenuntersuchungen sollen nun Klarheit schaffen, ob er mit seinem schrecklichen Verdacht recht hat.

Bis 1957 gehörte das Areal BMW. Der Autokonzern feiert in diesem Jahr mit viel Pomp sein 100-jähriges Bestehen. Was sich in den Vierzigerjahren auf dem Gelände in Allach abspielte, gilt allerdings als eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In der NS-Zeit baute BMW noch keine schicken Autos, sondern Flugzeugmotoren für das Regime. Ausgedehnte Baracken-Wohnlager entstanden von 1940 an, die zur Unterbringung von 3000 Arbeitern errichtet wurden. Ende 1944 waren dort fast 15  000 Menschen hineingepfercht, darunter mehr als 5000 KZ-Häftlinge. Sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen schuften, entweder in der Produktion oder in Baukommandos. Der KZ-Überlebende Max Mannheimer war einer von ihnen. In seinem "Späten Tagebuch" schilderte er: "Auf dem Gelände der BMW haben wir Hallen zu bauen. Die Arbeit besteht aus Zement tragen - Eisen tragen. Dem Kommandoführer Jäntzsch macht es Spaß, seinen Schäferhund auf die Häftlinge zu hetzen. Er gibt erst das Kommando ,auslassen', wenn das Opfer blutet."

Anders als die Zwangsarbeiter, die in windigen Holzbaracken ohne Strom und Wasser hausten, hatten die Fremdarbeiter feste Baracken mit bescheidenem Komfort. Das war das sogenannte Würmlager, wo auch die Familie Meikis zeitweise einquartiert war. Zur Kriegszeit waren dort noch die ausländischen Arbeiter untergebracht, säuberlich sortiert nach Nationalität. Einige Italiener blieben nach 1945 in Karlsfeld. "Das waren unsere ersten Gastarbeiter", sagt Ilsa Oberbauer vom Heimatmuseum.

Von den Dimensionen des BMW-Fabrikkomplexes kann man sich heute kaum noch eine Vorstellung machen. Die gigantischen Flächen mit ihren Fabrikhallen wirken auf den historischen Aufnahmen wie Impressionen einer albtraumhaften Parallelwelt. Es gab nicht nur die ausgedehnten Barackensiedlungen, auch ein eigenes Kraftwerk, eine Kläranlage. All das hatte die Gemeinde nicht. 1939 war Karlsfeld noch ein kleines Nest mit 1009 Einwohnern an einer Durchgangsstraße an der Grenze zu München . Es gab keine Geschäfte, keine Schule, keinen Friseur. Die entstanden erst in den benachbarten Lagern.

Es gab sogar eine Bordellbaracke, in der sechs französische und fünf polnische Prostituierte arbeiteten - wie die allermeisten Beschäftigten im Lager keineswegs immer freiwillig. Seit 1963 steht an der Stelle des Bordells die Karlsfelder Kirche Sankt Josef, die Pfarrer Erich Goldammer Ilsa Oberbauer zufolge deshalb "mit extra viel Weihwasser" einweihte. Goldammer, der 1946 selbst als Heimatvertriebener nach Allach gekommen war, war es auch, der 1948 den Plan fasste, eine Notkirche zu bauen. Sie wurde von Freiwilligen auf dem Areal der heutigen MAN aus Steinen zerbombter Häuser errichtet und gilt als erste "Flüchtlings-Notkirche" in Bayern. 2005 ließ MAN sie abreißen. Im angebauten Kirchturm, der aussah wie ein Schornstein, hing eine Glocke, die zwischen 1400 und 1500 gegossen worden war. Woher sie stammt, ist bis heute ein Rätsel. Die Glocke ist in der Ausstellung ebenso zu sehen wie ein Modell der Notkirche.

Alltagsgegenstände zeugen vom Leben in den Flüchtlingscamps: eine Dose Blockmalz, englischsprachig bedruckt, weil hergestellt mit US-Lizenz; ein Zeugnis von Hiltraud aus der ersten Klasse, die den Lehrer "durch großen Fleiß" erfreute; die Zeichnungen, in denen der ehemalige Bewohner Johann Schröpf mit Liebe zum Detail festgehalten hat, wie die Menschen im Würmlager lebten. Grundrisse zeigen schmale Einzimmerwohnungen von 24 Quadratmetern. Das musste reichen für eine vierköpfige Familie. "Die Lagerstraße wurde jeden Tag gekehrt", erzählt Ilsa Oberbauer. "Die war immer picobello." An der Museumswand hängt ein Blumengemälde, Werk eines sudetendeutschen Flüchtlings. Einst verschönerte es eine Baracke - bürgerliche Behaglichkeit, wo noch kurz zuvor das Prinzip "Vernichtung durch Arbeit" umgesetzt worden war. Erstaunlich, wie schnell sich die Normalität den Raum zurückerobert. Und auch ein wenig verstörend.

Die Ausstellung im Heimatmuseum Karlsfeld (im alten Rathaus, Gartenstraße 6) ist jeden ersten und dritten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Sie dauert noch bis Mai.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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