Besonderes Erlebnis :Kirche begreifen

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Bei einer Tastführung dürfen Besucher von St. Michael, was sonst kaum einer darf: die Statue der Maria Magdalena berühren. Die Teilnehmer erfahren so oft einen völlig neuen Zugang zu Glaubenskunst

Von Kathrin Aldenhoff

Wie üppig die Locken über die Schultern von Maria Magdalena fallen. Oder sind das gar keine Locken, sind das die Falten ihres Gewands? Ihr Mund ist offen, aber lächelt sie? Und wo ist denn nun ihr zweiter Fuß? Hände betasten die Bronzefigur aus dem 16. Jahrhundert, nur eine dünne Schicht Latex trennt Mensch und Kunstwerk. Die Besucher tragen Handschuhe und schwarze Augenbinden, sie sehen an diesem Samstag in der katholischen Kirche St. Michael nichts.

Möglich macht das an diesem Tag Dagmar Bosch. Sie leitet diese besondere Führung durch die Kirche mitten in Münchens Fußgängerzone. Die Menschen, denen sie es ermöglicht, diese Kirche und ihre Kunstwerke im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen, sind meist blind oder sehen sehr schlecht. Für sie gibt es seit einem Jahr diese Tastführungen in St. Michael, ein Angebot des Münchner Bildungswerkes. Es gibt offene Termine, wer will, kann aber auch direkt buchen.

Manchmal melden sich auch Sehende an. Etwa eine Betreuerin mit ihrer Seniorengruppe oder ein paar Freundinnen. "Sich jemandem anvertrauen zu müssen, das ist ein besonderes Gefühl", sagt Dagmar Bosch. "Wir sind immer so kontrolliert, wissen schon genau, was der nächste Schritt sein wird." Hier kenne man diesen nächsten Schritt nicht. "Für eine Gruppe kann es eine sehr schöne Sache sein, das gemeinsam zu erleben." Die Teilnehmer erfahren so oft einen völlig neuen Zugang zu Kirche und Kunst. So wie Christine Moos und Peter Steinel.

Mit Augenbinde und Latexhandschuhen durch die Kirche St. Michael: Christine Moos untersucht die Bronzestatue der Maria Magdalena. (Foto: Catherina Hess)

Ein wenig skeptisch stehen sie am Samstag vor der Kirche, eher zufällig sind sie zu dieser Führung gekommen, als Teilnehmer einer großen katholischen Veranstaltung in der Münchner Innenstadt. Das Erzbistum München und Freising feiert, dass es seit 50 Jahren Laiengremien wie Pfarrgemeinderäte gibt. Etwa 1200 Katholiken sind in der Stadt, am späten Nachmittag hält Erzbischof Kardinal Reinhard Marx in der Frauenkirche einen Gottesdienst. Vorher sind alle unterwegs, besuchen eine Kabarettvorstellung, arbeiten in Workshops zu Themen wie Seelsorge, Nachhaltigkeit oder Ökumene - oder tasten sich eben durch die Jesuitenkirche St. Michael.

Erste Station: Der Weihwasserengel am Eingang der Kirche. Dagmar Bosch hatte Einweghandschuhe in verschiedenen Größen und Augenbinden aus ihren Taschen gezogen und verteilt. Damit ausgestattet stehen die Teilnehmer nun vor dem großen Engel und ertasten Hände, Gesicht, Flügel der Figur. Berühren ist erlaubt, auch wenn es mal den Nachbarn trifft: "Das ist jetzt mein Bein." Ob die Bronzefigur denn Schuhe trage, fragt Dagmar Bosch. Nein, stellen die Teilnehmer bald fest, sie ist barfuß.

Wer gerade keine Augenbinde trägt, führt einen anderen zur nächsten Station: auf die Kirchenbank. Dagmar Bosch zieht aus ihrer Tasche eine kleine Lautsprecherbox; es erklingt die Kantate von Johann Sebastian Bach, die er für das Fest des Erzengels Michael komponierte. Dagmar Bosch erzählt von Wilhelm V., der die Kirche bauen ließ, und von dem Grabdenkmal für ihn und seine Frau, dessen Einzelteile zwar gefertigt wurden, aber nie so zusammengefügt wurden, wie geplant. Der Weihwasserengel ist ein Teil davon, vier riesige Kerzenständer - und die Madonna, die heute auf der Mariensäule am Marienplatz steht.

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(Foto: Privat)

Fuß fassen Stefanie Haselbeck, 42 Jahre: "Ich habe mich 2010 das erste Mal in den Pfarrgemeinderat von St. Wilhelm in Oberschleißheim wählen lassen, weil ich nach 15 Jahren in meinen Heimatort zurückgekommen bin und mich wieder integrieren und Fuß fassen wollte. Mittlerweile habe ich zwei Kinder und mir ist die Auseinandersetzung mit dem Glauben wichtig. Ich kann unser Gemeindeleben selbst mitgestalten, sei es, wenn wir Pfarrfeste organisieren, den Sektempfang nach der Firmung oder den 50. Geburtstag des Pfarrers. Das motiviert mich sehr. Als Ehrenamtliche können wir Missstände in der Amtskirche auch besser kritisieren, etwa jetzt beim Missbrauchskandal. Da haben wir uns in einem sehr kritischen Brief gegen die Amtskirche gewandt. Das wäre eventuell für einen Hauptamtlichen nicht so ohne weiteres denkbar."

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(Foto: Privat)

Einblicke gewinnen Jonathan Fuchs, 21: "Ich bin seit 2014 im Pfarrgemeinderat der Pfarrei St. Georg in Finsing. Damals hatte mich der Pfarrer gefragt, ob ich nicht als Jugendvertreter mitmachen möchte? Ich fand das interessant, wollte sehen, was hinter den Kulissen so abläuft und konnte gleichzeitig Themen der Jugendarbeit einbringen. 2018 wurde ich dann auch richtig gewählt. Manchmal ist es schwierig, weil es viel darum geht, Feste zu organisieren. Bei neuen Ideen heißt es dann oft: ,Das haben wir aber immer anders gemacht.' Deswegen haben wir zum Beispiel beim pastoralen Konzept nur in einer kleineren Arbeitsgruppe überlegt, was die Gemeinde in Zukunft an Angeboten und Personal braucht. Spannend ist, dass ich als Vertreter des Pfarrgemeinderats auch im Dekanatsrat sitze. Da bekomme ich Dinge mit, die über die Pfarrei hinausgehen."

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(Foto: Uwe Miethe/oh)

Ankerpunkte setzen Anita Thiel, 45: "Es kommt schon vor, dass man denkt, der Pfarrgemeinderat ist das Würschtelgremium fürs Sommerfest. Aber ich finde, solche Veranstaltungen sind ungemein wichtige Ankerpunkte für das Zusammenkommen. Außerdem machen wir noch viele andere spannende Dinge. Zum Beispiel organisieren wir zusammen mit dem Kreisbildungswerk Veranstaltungen im Café hier in Anzing. Da gibt es dann zum Beispiel Vorträge über die Ortsgeschichte oder zur Ökumene. Im Pfarrgemeinderat von Mariä Geburt engagiere ich mich seit 2010. Wir treffen uns einmal im Monat zur Sitzung und haben ein mal im Jahr einen Klausurtag. Am besten gefällt mir der Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Hier kann ich dafür sorgen, dass unsere tollen Angebote sichtbar werden, auch für Menschen, die nicht in der Kirchengemeinde sind."

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(Foto: Privat / Protokolle: fris, mest)

Glauben verbreiten Martin Nieroda, 31: "Ich habe mich 2010 bereit erklärt, für den Pfarrgemeinderat der Gemeinde St. Ulrich in Niederschleißheim zu kandidieren, weil für mich Glaube und Kirche die prägendsten Elemente in meinem Leben sind. Als jemand, der Theologie studiert hat, weiß ich, welche Veränderungen auf die Kirche zukommen. Ich engagiere mich, weil ich möchte, dass auch zukünftig Menschen noch die Erfahrung machen können, dass der Glaube einen trägt. Das wichtigste Projekt bisher war die Zusammenlegung der beiden Kirchengemeinden in Unterschleißheim zu einem Pfarrverband. Die unterschiedlichen Prägungen, also traditionell und liberal, mussten wir langsam zusammenzuführen. Inzwischen haben wir immerhin einen gemeinsamen Pfarrbrief und eine abgestimmte Gottesdienstordnung."

"Jetzt noch mal eine kleine Stufe hoch, und jetzt machen Sie mal eine Kniebeuge", leitet Dagmar Bosch ihre Teilnehmerin an. Christine Moos hockt vor der Bronzestatue der Maria Magdalena, die der Künstler Hans Reichle Ende des 16. Jahrhunderts schuf. Sie tastet nach den Füßen, findet nur einen, Maria Magdalena kniet, das fühlt sie. Peter Steinel tastet sich am Gewand der Bronzefigur nach oben, untersucht den Kopf der Figur, die Nase. "Die Augen sind geschlossen", mutmaßt er, aber hier täuscht er sich.

Nächste Station, Dagmar Bosch zündet eine Kerze und Weihrauch an und lässt die Gruppe Gegenstände ertasten, Materialien, Stoffe. Es ist still, die Besucher, die aus der Fußgängerzone immer wieder in die Kirche kommen, um Fotos zu machen und vielleicht auch, um ein wenig Ruhe zu finden, sind leise. Irgendwann spielt ein Musiker auf der Orgel.

Als Peter Steinel später die Augenbinde abnimmt, ist er überrascht. "Das habe ich mir ganz anders vorgestellt", sagt er, als er die Figur der Maria Magdalena betrachtet. Christine Moos hatte sich an einem ganz anderen Ort in der Kirche gewähnt.

Die Gruppe ist hinter der Absperrung zum Altarbereich, möglich macht das diese besondere Kirchenführung. "Sonst dürfen Sie hier nicht hinein", erklärt Dagmar Bosch, "und Sie dürfen die Figur sonst auch nicht anfassen." Wer nicht sieht, sondern fühlt, der bemerkt auf einmal Details: Dass der Engel, der das Weihwasserbecken hält, beinahe schwebt; nur die Fußballen berühren den Boden der Kirche. Dass Maria Magdalena ein Taschentüchlein in der Hand hält, mit der sie sich am Kreuz Jesu festhält. Und dass nur einer ihrer beiden Füße zu sehen ist, den anderen bedeckt ihr Gewand.

"Ich sehe das jetzt mit ganz anderen Augen", sagt Peter Steinel. Als er die Kirche betreten hat, habe er die Figur der Maria Magdalena gar nicht bemerkt. Nun macht er ein Foto von ihr.

Nach eineinhalb Stunden treten alle wieder hinaus, raus aus der Stille, mitten hinein in die Fußgängerzone. Das grelle Sonnenlicht blendet, ein Mann sitzt auf einem Einrad und jongliert, das Publikum applaudiert, Menschen laufen durcheinander, mit Tüten beladen. Die Sinne sind nach den zarten Eindrücken in der Kirche ein wenig überfordert.

© SZ vom 01.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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