Wenn es ihm nützt, kann der Élysée-Palast eine große Trägheit ausstrahlen. Dann kommen Informationen spät und spärlich. Doch in diesen Tagen kommuniziert der Élysée zwischen Morgengrauen und Mitternacht auf allen Kanälen. Denn der Apparat des französischen Präsidenten ist nun dort, wo Emmanuel Macron ihn immer haben wollte: im Zentrum Europas. Nicht nur im Zentrum der EU wohlgemerkt, nein, bei Macron laufen gerade die Fäden des europäischen Kontinents zusammen.
Am Montag wird Macron nach Russland reisen, um dort Wladimir Putin zu treffen, am Dienstag soll er dann in der Ukraine von Wolodimir Selenskij empfangen werden. Macron ist somit zu einem der zentralen Vermittler im Ukrainekonflikt geworden. Und im Élysée hat man es sich nicht nehmen lassen weiterzutragen, dass der Russe den Franzosen als "den Einzigen" bezeichnete, mit dem er "profunde Gespräche" führen könne.
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Doch dieses Aufblitzen französischer Eitelkeit sollte nicht zu dem Eindruck führen, dass Macron gerade einen der Alleingänge durchziehe, die ihm oft genug unterstellt werden. Viel eher will er beweisen, dass möglich ist, was er schon seit Langem fordert: eine europäische Sicherheitspolitik. Macron sieht darin keine Abkehr von den USA, keine Zurückweisung der Nato, sondern schlicht die Notwendigkeit, Verantwortung für die eigene Nachbarschaft zu übernehmen.
Er hat Erfahrung darin, Leerstellen zu füllen
Nur wendet Emmanuel Macron innen- wie außenpolitisch dieselbe Strategie an: Er provoziert, um Aufmerksamkeit zu erlangen. So sagte er den Franzosen, er wolle Nicht-Geimpften "auf den Sack gehen", und die Nato nannte er 2019 "hirntot". Das klingt wild. Doch hinter diesen Ausbrüchen steht eine kohärente Politik - ob man sie nun richtig findet oder nicht.
Der Schlüssel, um diese Politik zu verstehen, liegt in Macrons eigenem Aufstieg. Er ist Präsident Frankreichs geworden, weil er es geschafft hat, die Leerstelle in der Mitte einer zerfallenden Parteienlandschaft zu füllen. Wo vorher eine Lücke war, sitzt nun er. Wo vorher die ideologischen Blöcke links und rechts gegeneinander kämpften, schmiedet er nun flexible Allianzen.
Dieses Erfolgsrezept will Macron auch geopolitisch umsetzen. Die Ära der klaren Zugehörigkeiten ist vorbei. Bündnisse werden schnell geschlossen und schnell wieder aufgelöst. Wie schmerzhaft das sein kann, hat Macron selbst erfahren, als die USA mit Australien und Großbritannien hinter Frankreichs Rücken den U-Boot-Deal einfädelten. Doch eine Alternative zu dieser Flexibilität sieht Macron nicht. Vor allen Dingen, weil sie ihm die Möglichkeit lässt, sich in der Rolle des schnell agierenden Strippenziehers zu sehen.
Macht dieser Opportunismus Macrons Engagement in der Ukraine-Krise unglaubwürdig? Oder zu einem reinen Wahlkampfmanöver? Nein und nein. Erstens gab es seit seinem Amtsantritt keinen Moment, der nicht aussah wie Wahlkampf, weil Macron immer mit großer Geste und mächtigen Symbolen regiert, ob nun bald abgestimmt wird oder nicht. Und zweitens haben seine Dialogversuche mit Putin ein klar definiertes Ziel: einen tatsächlichen Kriegsausbruch zu verhindern. In Paris wertet man jede Woche, in der noch geredet wird, als eine, in der nicht geschossen wird. So gesehen hat Macron bislang Erfolg.