Coronavirus:Wie die Rechnung aufgehen kann

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Testen, impfen, Kontakte nachverfolgen: Die geplanten Lockerungen der Corona-Regeln können funktionieren - wenn die Fallzahlen sinken, anstatt in die Höhe zu schnellen. Andernfalls droht ein unglückliches Szenario.

Von Viola Priesemann

Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten Schritt für Schritt lockern können. Allerdings nur langsam, im Tempo der Impfungen und verfügbaren Schnelltests. Die Frage ist dabei nicht, ob wir ganz oder gar nicht öffnen sollten. Die Frage ist, wie viel Öffnung wir uns zu einem gegebenen Zeitpunkt leisten können. Antwort darauf können die Zahlen rund um die Pandemie geben.

Die Impfungen schreiten voran, und die Todesfälle in der Altersgruppe der über 80-Jährigen gehen zurück. Manche fragen jetzt: Warum können wir nicht in größeren Schritten lockern? Die Antwort, aus Sicht der Epidemiologie: Bisher sind nur rund 2,5 Prozent der Bevölkerung geimpft, und es wird noch einige Monate dauern, bis ausreichend Impfschutz besteht. In der Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen beträgt die Wahrscheinlichkeit, an der Infektion zu sterben, im Mittel rund 0,2 Prozent. Für jede einzelne Person mag das Risiko gering sein. In der Summe sind das jedoch sehr viele Menschen, die Intensivversorgung bräuchten, sodass die Stationen noch lange gefüllt sein könnten. Deswegen können wir jetzt nicht nach Belieben öffnen.

Sollten wir uns denn überhaupt noch an den Fallzahlen orientieren, oder nicht eher an der Auslastung der Intensivstationen? Derzeit scheint ja etwas Platz in den Kliniken zu sein. Das aber täuscht. Erlauben wir uns in einem Gedankenexperiment 30 Prozent mehr Ansteckungskontakte (was wenig ist). Dann stiege der R-Wert auf 1,3, und innerhalb von einem Monat hätten wir achtmal mehr Neuinfektionen, also eine Wocheninzidenz von fast 500 nach der entsprechenden Verzögerung. Wir würden nur eine sehr kurzfristige Erleichterung gewinnen. Denn spätestens dann müsste der R-Wert wieder auf 1 gedrückt werden. Und das ist bei hohen Fallzahlen deutlich schwieriger als bei niedrigen, denn das Testen und die Kontaktnachverfolgung sind eine Kapazitätsfrage.

Nötig ist engmaschiges Testen für alle, die nicht im Home-Office arbeiten

Das Impfen und Testen muss also schneller sein als das Öffnen. Da sind sich die Wissenschaften einig: Hohe Fallzahlen haben nur Nachteile für die Gesundheit genauso wie für Gesellschaft und Wirtschaft. Jedes Ansteckungsrisiko durch Öffnung muss also ausgeglichen werden - durch besseres Testen und die bekannten Hygienemaßnahmen. Wir brauchen engmaschiges Testen für alle, die nicht im Home-Office arbeiten können. Zusätzlich sind vorsorgliche Tests vor größeren Treffen angebracht, unabhängig von der Inzidenz. Veranstaltungen bergen immer ein Superspreading-Risiko. Wer Testlücken am Arbeitsplatz und bei Versammlungen riskiert, der riskiert, dass Schulen wieder geschossen werden müssen.

Wie riskant ist das nun geplante Öffnen des Einzelhandels? Wahrscheinlich tragen Ansteckungen in Blumengeschäften, Buchläden, Autohäusern etc. jeweils recht wenig zum Geschehen bei. Aber die Summe kann beträchtlich sein. In Innenräumen kann es immer zu Ansteckungen kommen, und sie können nur schwer nachverfolgt werden. Genau quantifizieren lassen sich die Effekte in Deutschland bisher nicht, denn es gibt keine objektiven Stichproben. Mit der schrittweisen Öffnung testet man also, wie groß der jeweilige Effekt ist. Bleibt der im stabilen Bereich, kann man weiter öffnen. Aber schon rund 10 Prozent mehr Ansteckungen machen den Unterschied, ob die Fallzahlen stabil bleiben (R=1) oder sich in einem Monat verdoppeln (R=1,1). Das zeigt, wie klein der Spielraum ist.

Gleichzeitig steigen die Fallzahlen mit der neuen Variante B.1.1.7 an. In Österreich, das Deutschland in Sachen Öffnung einen Schritt voraus ist, hat die neue Variante einen R-Wert von rund 1,2 bis 1,3, während die alte Variante bei rund 1 liegt. Die Notbremse, die in Deutschland bei einer Wocheninzidenz von 100 nun vorgesehen ist, wäre damit hier in kürzester Zeit erreicht und muss dann gezogen werden.

Die Wahl der Grenzwerte 50 und 100 ist wissenschaftlich wenig begründet

Impfen, testen, Kontakte nachverfolgen, vorsichtig bleiben: Die Maßnahmen, für die die Politik sich jetzt entschieden hat, sind die richtigen, um Schritt für Schritt den Alltag zurückzuerobern. Das Problem ist nur: Am besten wirken sie bei niedrigeren Fallzahlen, als wir sie zurzeit haben. Die Wahl der Grenzwerte 50 und 100, welche die Politik nun getroffen hat, sind also ein Kompromiss zwischen Öffnungswunsch und Kontrollierbarkeit. Wissenschaftlich sind sie wenig begründet. Sachgerecht wäre es, die Obergrenze an den Punkt anzulegen, an dem die Gesundheitsämter mit der Kontaktnachverfolgung wieder hinterherkommen. Im vergangenen Herbst lag diese Grenze bei einer Wocheninzidenz von rund 20. Derzeit mag sie höher liegen, da alle weniger Kontakte haben. Aber genauso müsste sie wieder abgesenkt werden, je mehr wir öffnen. Wir stehen also an einem Scheideweg: Entweder erreichen wir das Ziel 10 trotz Öffnungen. Oder wir riskieren einen Stop-and-go-Effekt im Hin und Her zwischen Notbremse und hohen Fallzahlen. Das wäre eine unglückliche Situation.

Diese Aussichten erscheinen nicht besonders ermutigend, und von den Escape-Varianten, dem Eintrag von Infektionen von außen und all den Kollateralproblemen des Virus und Lockdowns haben wir noch gar nicht gesprochen. Aber es gibt eine Chance: Wenn die Tests nun Teil des Arbeitslebens und Alltags werden, wenn dadurch die Fallzahlen niedrig bleiben und weiter sinken, wenn Kontaktnachverfolgung und Quarantäne schneller sind als das Virus und wir den Eintrag möglicher Escape-Varianten an den Grenzen gut verlangsamen, dann können wir bei niedrigen Inzidenzen nachhaltig lockern.

Die Physikerin Viola Priesemann erforscht am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen unter anderem die Ausbreitung der Corona-Pandemie in Deutschland.

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