Video im Lübcke-Prozess:"Ein Tabubruch"

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Der Angeklagte Stephan Ernst im Gerichtssaal. (Foto: Pool/Getty Images)

Ein Online-Reportageformat veröffentlicht ein Vernehmungsvideo des Angeklagten im Mordfall Walter Lübcke. Die Philosophin und Medienethik-Professorin Larissa Krainer erklärt die möglichen Folgen - für Angehörige und potenzielle Täter.

Interview von Theresa Hein

Das Online-Reportageformat STRG_F vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) hat in einem Beitrag das Vernehmungsvideo des im Mordfall Walter Lübcke angeklagten Stephan Ernst veröffentlicht. Die Reporter nennen als Begründung unter anderem, das Video sei ein "Dokument der Zeitgeschichte".

Dadurch, dass es sich im Internet befindet, wirkt das Video auch in den Gerichtsprozess hinein, der noch andauert - es ist für alle, auch für Zeugen oder den Mitangeklagten, immer wieder abrufbar. Da das Video im Prozess schon in voller Länge gespielt wurde, sind die Journalisten aus juristischer Sicht auf der sicheren Seite. Aber was ist mit den ethischen Bedenken?

Die österreichische Philosophin und Medienethik-Professorin Larissa Krainer erklärt, warum die Verbreitung des Videos eine unglückliche Entscheidung war und was sie für Folgen nach sich zieht - sowohl für die Angehörigen des Opfers und des Täters als auch für die Motivation weiterer rechtsradikaler Taten.

SZ: Frau Krainer, was halten Sie von dem Schritt, das Video öffentlich zu machen?

Larissa Krainer: Ich finde das sehr problematisch. Vor allem aber halte ich diese Veröffentlichung für einen Bruch mit allen bisherigen Traditionen.

Wo liegt das Problem?

Da sind erst einmal die Tabubrüche im Bereich des Täterschutzes. Natürlich kann man sagen, der Täter habe im Prozess bereits gestanden. Aber: Auch Täterinnen und Täter haben ein Recht auf gewissen Schutz, auch ihrer Intimsphäre. Und es gibt ja immer Angehörige - auch von Tätern. Ich kann mir nur vorstellen, wie sich Verwandte, Freunde oder Partner danach fühlen müssen. Vor allem ist es aber ein Tabubruch im Sinne des mangelnden Opferschutzes. Man sieht in dem Video, wie Stephan Ernst die Haltung mit einer imaginären Pistole in der Hand einnimmt, um zu zeigen, wie er den Schuss abgab. Auch hier ist der Schutz der Angehörigen nicht gewährt. Und wir wissen, dass man nichts mehr aus dem Netz bekommt, was einmal drin ist. Die Verbreitung ist nicht aufzuhalten.

Was ist das Besondere an dem Video dieser Vernehmung? Es handelt sich ja nicht um ein Bekennervideo aus irgendeinem Schlafzimmer, sondern es wurde auf einem Polizeirevier aufgenommen.

Ehrlich gesagt, beim Ansehen habe ich mir gedacht, was ist der nächste Schritt? Livestreaming von Verhören? Das ist natürlich überspitzt, aber die Sorge ist schon: Wie wirkt sich das auf Vernehmungstechniken aus? Es werden ja auch die handelnden Polizisten durch das Video bekannt, die wahrscheinlich keinen großen Wert darauf legen, bei ihrer Arbeit gefilmt zu werden. Es werden die Räume gezeigt. Es werden Vernehmungsmethoden gezeigt, eigentlich Dinge, die genuine Polizeimethoden sind - und bei denen es gute Gründe gibt, dass sie nicht öffentlich einsehbar sind. Man fragt sich: Wer hat da eigentlich eine Freigabe erteilt? Es ist wohl unter der Hand irgendwie weitergegeben worden.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen auf das Video?

Wenn eine Plattform so ein Video veröffentlicht, bietet sie die Möglichkeit, sich daran zu ergötzen. Man sieht das an den Kommentaren unter dem Video von "Toll, dass ihr das zeigt" bis hin zu "Ich hätte nicht gedacht, dass ein Vernehmungsraum so aussieht". Teilweise finden sich dort kritische inhaltliche Stimmen. Das Video sehen aber auch potenzielle weitere Täterinnen und Täter.

Medienethikerin und Philosophin Larissa Krainer. (Foto: Johannes Puch)

Es kann Nachahmern dienen?

Wir kennen das Phänomen in anderen Bereichen. Bei Morden und Selbstmorden kann man gar nicht sorgfältig genug überlegen, welche Inhalte man veröffentlicht. Der Werther-Effekt, also der Nachahmungseffekt, ist ein empirisch evident nachgewiesenes Phänomen bei Suiziden. Psychologen warnen daher davor, Tatwaffen abzubilden, Stellen, an denen Menschen sich umgebracht haben - oder auch andere umgebracht wurden. Potenzielle weitere Täterinnen und Täter, die rechtsextremistische Taten erwägen, könnten Verhöre künftig auch für PR-Strategien nutzen. Die sehen das und wissen: "Ah, das ist noch eine der letzten Gelegenheiten, bevor man ins Gefängnis geht, bei der man öffentlich kundtun kann, was man denkt." Und vertrauen darauf, dass es ins Internet kommt.

Im Video wiederholt Stephan Ernst mehrmals, was seine Motivation für die Tat war.

Was von diesem Video bleibt, ist eigentlich: Jemand, der Fremde hasst, darf das öffentlich zu Protokoll geben und darauf vertrauen, dass es dann zigtausendmal auf Youtube wiederholt wird. Es gibt eigentlich keine Möglichkeit, dem zu widersprechen. Es gibt auch keine Möglichkeit für die Angehörigen des Opfers, zu veranlassen, dass das Video verschwindet. Das muss unsagbar schrecklich sein, für die Angehörigen und für viele andere auch. Jemand sagt, "ich mag keine Fremden, also bringe ich halt einen Politiker um". Wer das im Netz sieht, denkt doch: Das kann jedem von uns passieren.

Die Journalisten thematisieren durchaus, dass sie dem Täter eine Bühne bieten, aber sie begründen ihre Entscheidung, das Video sei ein "zeitgeschichtliches Dokument". Im Journalismus wird häufig auch mit dem Stichwort "öffentliches Interesse" argumentiert. Was halten Sie davon?

Was ist öffentliches Interesse und wer beurteilt das? Das Problem am öffentlichen Interesse ist: Ich kann es nicht "vorher" feststellen. Es gibt natürlich klare Einschätzungen dazu, was im öffentlichen Interesse liegt. Zweifelsohne liegt im Fall Stephan Ernst die Information über das Geständnis im öffentlichen Interesse: Der Täter ist gefunden, er hat gestanden, wir wissen, wer es ist. Aber er ist noch nicht verurteilt. Walter Lübcke ist - auch über seinen Tod hinaus - eine Person des öffentlichen Interesses. Das sind Politikerinnen und Politiker jederzeit. Allerdings fehlt ihm die Möglichkeit, sich zu diesem Vorgang zu äußern. Das wird er auch nie wieder können.

Also war die Entscheidung sowohl ethisch falsch als auch, was den vermeintlichen Nachrichtenwert betrifft?

Eine ethische und journalistische Entscheidung getrennt voneinander sollte es nicht geben. Aus journalistischer Sicht war das auf jeden Fall eine unglückliche Entscheidung, weil die ethischen Aspekte nicht hinreichend bedacht und die Folgen nicht ausreichend abgeschätzt wurden.

Wie finden Redaktionen denn in so einem Fall zu einer richtigen Entscheidung?

Eine Entscheidung wie die, dieses Video zu veröffentlichen, ist so gravierend, dass sie nicht nur ein Einzelner treffen sollte. Bestimmt haben im vorliegenden Fall auch mehrere Menschen beraten. Klar, die erste Instanz ist immer das eigene Gewissen. Immanuel Kant nennt das eigene Gewissen den "inneren Gerichtshof des Menschen". Aber die zweite Instanz ist immer die Redaktion. Das ist gut, weil man da ein Kollektiv hat. Manche Medienhäuser haben auch Ombudspersonen für ethische Fragen. Es geht immer darum, dass man in sehr heiklen Fragen so etwas wie einen Diskurs sucht, einen Austausch. Die Folgen dieses Videos sind auf jeden Fall sehr weitreichend. Ich hoffe nicht, dass wir sämtliche Verhörvideos in Zukunft online abrufbar haben werden.

Wäre es etwas anderes gewesen, wenn man mit der Veröffentlichung gewartet hätte, bis der Prozess abgeschlossen ist?

Ich finde, nein. Die ethischen Probleme - möglicherweise anders als die rechtlichen Fragen - ändern sich durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht.

Sollte die Redaktion darüber nachdenken, das Video zu löschen?

Ich denke, dass Löschen zumindest sinnvoll wäre, wenn man sich einer ethischen Debatte stellt. Man zeigt dann: "Wir ziehen jetzt die Konsequenzen. Wir haben eine neue Haltung gewonnen."

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