Russland:Artikel gelöscht

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Die russische Zeitung "Wedomosti" wird verkauft. Seither herrscht Krisenstimmung. Denn damit, so die Befürchtung, droht das Blatt künftig von Kreml-Unterstützern kontrolliert zu werden.

Von Clara Lipkowski

Im März hat die russische Zeitung Wedomosti ("Der Anzeiger") ihre Lettern auf der Titelseite umgestaltet: von Wedomosti zu "Wsjedomoj", was bedeutet: Alle nach Hause. Die Wirtschaftszeitung appellierte daran, in Zeiten des Coronavirus zu Hause zu bleiben. Damit bezog sie deutlich früher Stellung als die Regierung, die Covid-19 noch herunterspielte. Einmal mehr zeigte sich, dass sich die Redaktion nicht um die Linie des Kreml kümmert. Wedomosti gehört zu den wenigen verbliebenen Printmedien in Russland, die noch unabhängig berichten. Doch nun wird die Tageszeitung verkauft. Medienanalysten warnen, damit drohe auch diesem Blatt, von Kreml-Unterstützern kontrolliert zu werden.

Die Redakteurin im Medien-Ressort der Zeitung, Xenia Bolezkaja, sagt im Gespräch mit der SZ, sie sei "nicht glücklich" über den Verkauf. Vieles sei jetzt ungewiss. Sicher ist, dass das Blatt, das Schätzungen zufolge 17 Millionen Dollar wert ist, an zwei neue Eigentümer gehen soll, einen neuen Chefredakteur bekommt und einen neuen Redaktionsleiter. Der Deal werde gar vom Kreml abgenickt, schreibt das unabhängige Onlineportal The Bell. Überraschend kam der Verkauf nicht, die bisherigen Eigentümer wollten das Blatt nach dem Kauf 2015 beizeiten wieder abstoßen. Wedomosti steht gut da, rund 190 000 Leser erreicht die Papierausgabe, die Digitalsparte wird ausgebaut.

Der neue Chefredakteur Andrej Schmarow muss noch bestätigt werden, seine Aufgaben übt er schon jetzt aus.

Ende März stellte er sich bei einem Treffen mit der Redaktion vor. Dabei muss es zu heftigen Diskussionen gekommen sein. Die Mitarbeiter haben darüber nun Stillschweigen vereinbart, doch einige Informationen sind nach außen gedrungen. Schmarow, 64, hatte zum Beispiel damit provoziert, dass er Wedomosti nicht lese, weil ihm Artikel nicht gefallen hätten. Er kenne auch das Redaktionsstatut nicht, sagte er. Dieses "Dogma" ist die Grundlage der redaktionellen Arbeit, sagt Redakteurin Bolezkaja. Es legt Regeln des unabhängigen Journalismus fest.

Schmarow ist Gründer der kremlnahen Zeitschrift Expert. Eine Tageszeitung hat er bisher nicht geleitet. Nun hat er ohne Absprache die Überschrift eines Textes zum staatlichen Ölkonzern Rosneft umformuliert. Danach titelte der Text nicht mehr regierungskritisch, sondern in positivem Sinne. Ein Meinungsstück zu Rosneft löschte er komplett, ebenfalls heimlich. Das kommt einem Tabubruch gleich, denn Änderungen werden üblicherweise mit Redakteuren und Autorinnen vorher abgestimmt, ganze Artikel werden so gut wie nie gelöscht. Als das aufflog, machte die Redaktion die Überschrift des Chefs online rückgängig. Den gelöschten Text publizierte der Autor auf Facebook. Seither herrscht Krisenstimmung.

Leser beschwerten sich, erste Redakteure kündigten. In einem Brief an die neuen Eigentümer fordern leitende Redakteure, den Chefredaktionsposten neu zu besetzen, mit einer Journalistin aus dem eigenen Haus. In einem Gespräch mit der Redaktion, das Wedomosti veröffentlicht hat, verteidigt Schmarow sein Vorgehen, will er aber nicht offenbaren, warum er so gehandelt hat. Mit in der Runde saß einer der beiden neuen Eigentümer. Auch er ist kein Unbekannter. Konstantin Sjatkow, 34, ist Chefredakteur der Zeitung Nascha Versija, deren Autoren lobte er als "Patrioten Russlands". Sein Vater war lange Chefredakteur der Wochenzeitung Argumenty i fakty. Sie ist der Moskauer Stadtverwaltung unterstellt. An deren Spitze steht Bürgermeister Sergej Sobjanin, ein Vertrauter des Präsidenten Wladimir Putin. Dem zweiten Käufer, Alexej Golubowitsch, 55, gehört eine Investmentfirma, früher arbeitete er für Michail Chodorkowski. In einem Prozess gegen den Oligarchen, der als politisch motiviert galt, sagte Golubowitsch gegen Chodorkowski aus.

Mit dem Verkauf, so wird befürchtet, ändern nun die Kremlfreunde die Grundidee der Zeitung. Wedomosti war 1999, zeitgleich mit Putins Aufstieg, als explizit liberales, regierungskritisches Medium gegründet worden, als Projekt der Financial Times, des Wall Street Journals und der russischen Tochtergesellschaft eines finnischen Medienkonzerns. Der Gründer Derk Sauer, ein Niederländer, musste 2015 verkaufen, weil ein neues Gesetz es Ausländern verbat, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medien zu halten. 2017 kündigte die vielgeachtete Chefredakteurin Tatjana Lysowa, es folgte Ilja Bulawinow - ausgerechnet ein Journalist vom staatlichen Pro-Putin-Sender Erster Kanal. Doch er zeigte sich immun gegen Druck von oben und erhielt die liberale Linie. Sein Vertrag läuft Ende April aus. Wie es jetzt weitergeht? Die Redakteurin Bolezkaja sagt: "Wir werden alles tun, unsere Zeitung zu erhalten, wie sie ist". Sie ist seit 2009 dabei. Gründer Sauer twittert, er sei "tief besorgt". Der deutsche Russlandexperte Jens Siegert geht einen Schritt weiter: "R.I.P. Vedomosti (as we know it)" - "Ruhe in Frieden Wedomosti (wie wir sie kennen)."

© SZ vom 17.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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