Online-Journalismus:Aus der Vogelperspektive

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Die Gründer. Felix Friedrich und Dario Nassal, beide 26. (Foto: Julian Mathieu)

Mit künstlicher Intelligenz will die Internetseite "The Buzzard" Politik-Themen vielseitig beleuchten und somit dem Problem der Filterblasen begegnen.

Von Viola Schenz

Bussarde sind wendige Greifvögel, sie können schnell in den Sturzflug übergehen, um sich am Boden ihre Beute zu krallen. Dafür braucht es Geschick, Übung und einen scharfen Blick. Eigenschaften, die den Bussard zum erfolgreichen Jäger machen - und zum Vorbild für Felix Friedrich und Dario Nassal. Die Jung-Journalisten, beide 26, gaben ihrem Unternehmen den Namen The Buzzard.

Die Online-Plattform empfiehlt zu politischen Themen Stimmen abseits der Leitmedien. Die Macher glauben, dass das Orientierungsbedürfnis in Zeiten von Lügenpresse-Vorwürfen gewachsen ist. "In der Öffentlichkeit besteht eine gefühlte Einseitigkeit bei Debatten. Wir wollen die ganze Bandbreite abbilden, glaubwürdige Sichtweisen schnell und einfach zugänglich machen", sagt Nassal. "Wir wollen die Leute aus Filterblasen, Meinungsmonopolen und von Fake News befreien." Ein Anspruch, den natürlich auch die etablierten Medien haben, dem The Buzzard aber völlig anders begegnet.

Das Portal greift Fragen aus der Tagespolitik auf ("Sollten wir ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen?", "Sind Abschiebungen nach Afghanistan gerecht?") und sucht dazu im Netz nach Aufsätzen und Kommentaren von Journalisten, Wissenschaftlern, Aktivisten. Die werden nach Ja und Nein geordnet. So steht dann ein Kommentar aus der Mittelbayerischen Zeitung einem Artikel der Huffington Post gegenüber, oder ein Gastbeitrag von Norbert Blüm in Business Insider dem Editorial eines britischen Journalisten in einem Magazin namens IPG Journal. Alles musterhaft recherchiert, sortiert, farblich unterteilt, zu den Quellen verlinkt und mit Erklärstücken und Steckbriefen über Autor und Medium versehen. Englische, niederländische, russische oder auch arabische Artikel werden ins Deutsche übertragen. Außerdem begründen die Macher jeweils plausibel, warum sie diesen Text oder jenes Medium empfehlen. Es steckt sichtbar sehr viel Arbeit dahinter. "70 Stunden wenden wir im Schnitt pro Thema auf", sagt Nassal.

Nassal, Friedrich und ihre Kollegin Olga Osintseva besitzen alle einen Master in Politikwissenschaft, Friedrich und Nassal haben im Studium als Journalisten gejobbt. Zwei weitere Kollegen entwickeln die Software von The Buzzard. Anfang Juni ging thebuzzard.org online. 5000 Nutzer konnten sie seither gewinnen, 1400 davon sind ordentlich angemeldet, das heißt, sie werden regelmäßig befragt, schicken Vorschläge, beziehen den Newsletter.

Weltweit einzigartig sei ihr Meinungsnavigator, sagt Friedrich, "jedenfalls haben wir im World Wide Web noch nirgends gefunden, was wir machen". Aber auch ein Online-Zeitungskiosk wie Blendle präsentiert Artikel aus diversen Medien. Gleiches tun die sozialen Netzwerke. Lassen sich nicht alle möglichen Ansichten zu einem Thema auf allen möglichen Foren finden, von Facebook bis Twitter? "Klar kann man sich auf Facebook lange durchklicken und dann auf solche Meinungen und Blogs stoßen, aber nur wir bereiten das eben alles systematisch auf", sagt Friedrich. Damit kommen sie der menschlichen Natur entgegen. Die meisten Leser mögen es bequem, wandern selten weg von ihren Lieblingsmedien. Doch wenn ihnen etwas mundgerecht präsentiert wird, siegt vielleicht die Neugier über die Faulheit.

Geld verdienen die Fünf mit ihrer Fleißarbeit bisher keines. Damit teilen sie das Schicksal vieler Startups: Man arbeitet lange für lau, auf Risiko, für eine ungewisse Zukunft. Sie kann den Durchbruch bescheren, aber auch in der Pleite enden. "Wir leben auf extrem niedrigem Niveau, bei uns zählt jeder Euro", sagt Friedrich, "aber wir sind zuversichtlich." Dabei haben sie Glück: The Buzzard wird vom Debattenportal Vocer und vom Bayerischen Wirtschaftsministerium gefördert, mit insgesamt 13 000 Euro. Und gerade wurde es zum Deutschland-Sieger des "Creative Business Cup 2017" erklärt, das ist ein Wettbewerb, den internationale Stiftungen und Unternehmen finanzieren.

Irgendwann soll die Idee auch Geld einbringen. Derzeit unterstützt Google das Projekt

Irgendwann, wenn der Bussard richtig fliegt und jagt, soll er monetarisiert werden, so hoffen sie, mit Beiträgen zwischen acht und zehn Euro im Monat für "Freizeitleser" und etwas höheren Gebühren für "Berufsleser" - Referenten in Bundestagsbüros und Verbänden, Politikberater, Wissenschaftler. Mit gut 10 000 Organisationen sei der potenzielle Markt in Deutschland groß. Aber ob die Menschen auf diesem Markt gewillt sind, für ihren Dienst zu zahlen? Friedrich bleibt optimistisch: "6,8 Millionen Deutsche zahlen für Online-Journalismus. Die Leute sind durchaus bereit, für guten Inhalt Geld auszugeben, so wie sie es auch bei Netflix sind."

Von September an fließen weitere 50 000 Euro in die Buzzard-Kasse. Mit diesem Betrag unterstützt die "Digital News Initiative" des Internetkonzerns Google ihr Projekt. Das hält das Team vorerst über Wasser, ändert aber nichts an den hohen Betriebskosten. Deshalb zieht The Buzzard gerade aus dem Büro in der Münchner Innenstadt nach Leipzig, wo die Mieten viel niedriger sind.

Das Google-Geld ist zweckgebunden: Die Datenbank mit den Namen und Artikeln von Journalisten, Bloggern, Wissenschaftlern, die sie sich in den vergangenen zwei Jahren aufgebaut haben, füttert einen Algorithmus, der die zeitraubende manuelle Selektionsarbeit maschinell übernimmt. Google fördert die Entwicklung solcher Künstlicher Intelligenz (KI). Die KI sucht dann die Beiträge aus. Dem Buzzard-Team bleiben die Vorauswahl der Themen und das Schreiben der Steckbriefe. Ein solches Verfahren ist Standard, Algorithmen beeinflussen unser Leben heute an vielen Stellen. Bei jeder Web-Suche, bei jedem Facebook-Besuch sortieren sie vor, was man zu sehen bekommt. Längst sprechen Kritiker von "Algorithmic Bias", also von algorithmischen Voreingenommenheit.

Doch die hat menschliche Ursachen: Bei Plattformen wie The Buzzard haben Menschen die Vorauswahl getroffen, mit all ihren Schwächen - den Vorlieben, Abneigungen, Routinen, trotz allem Bemühen um Objektivität. Wird hier also das generiert, was man vermeiden wollte, nämlich eine - noch größere - Filterblase? Wenn Menschen die Maschinen mit Daten füttern, lässt sich der menschliche Faktor, der unbewusst Schwerpunkte setzt oder nicht sieht, was er nicht sehen will, nie ausschließen. Vielleicht muss man Subjektivität schlichtweg akzeptieren - als logischen Faktor bei einem Debattenforum.

© SZ vom 23.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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