Nachrichten für Teenager:Die Übersetzerin

Lesezeit: 4 Min.

Was auffällt: Olivia Seltzer wird in ihrem Newsletter nie ideologisch. (Foto: privat)

Die 15-jährige Olivia Seltzer steht jeden Morgen um fünf auf, fasst das Weltgeschehen für Gleichaltrige zusammen und verschickt ihren Newsletter in 80 Länder. Und das soll erst der Anfang sein.

Von Jürgen Schmieder

Wer Kinder hat, der kennt das: Sie hören einfach nicht zu. Dabei sind es großartige Geschichten, die Eltern erzählen können - von früheren Abenteuern, die zu grenzenloser Lebenserfahrung geführt haben. Von wichtigen Erkenntnissen, die sie nun an die Jugend weitergeben können. Von politischer und gesellschaftlicher Weisheit, die ... Wie? Kein Mensch unter 16 Jahren hört zu? Frechheit! Diese Jugend von heute!

Aber hören die Jungen nicht zu, weil die Geschichten der Alten langweilig und selbstgerecht sind, weil sie wenig mit der Realität jener Generation zu tun haben?

Olivia Seltzer, 15 Jahre alt, aus dem kalifornischen Santa Barbara, sagt: "Junge Leute interessieren sich für Politik, allerdings sind Nachrichten hauptsächlich von älteren Leuten für ältere Leute aufbereitet und nicht für die Angehörigen meiner Generation." Die Jugendliche am anderen Ende der Telefonleitung muss es wissen. Sie gründete im Februar 2017 die Nachrichtenplattform The Cramm, weil sie nach den Präsidentschaftswahlen bemerkt hatte, dass viele ihrer Freunde Kinder illegaler Einwanderer waren, und die sorgten sich um die politischen Pläne des gerade gewählten Donald Trump. Was sie noch bewegte: Klimawandel, Digitalisierung, Waffengesetze.

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Es gab jedoch kein Portal, auf dem sich Jugendliche so darüber informieren konnten, dass sie sich danach auch informiert gefühlt hätten, sagt sie. Einer Umfrage von Common Sense Media zufolge, das Filme, Serien, Bücher und Videospiele auf ihre Alterstauglichkeit untersucht, gaben 78 Prozent der amerikanischen Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren an, dass es wichtig sei, darüber Bescheid zu wissen, was los ist in der Welt. "Du kannst die Welt nicht verändern, wenn du nicht weißt, was auf dieser Welt passiert", sagt Seltzer. Vor zwei Jahren verschickte sie ihren ersten Newsletter, den mittlerweile, wie sie sagt, "pro Monat eine Million Leute in 80 Ländern" empfangen.

Olivia Seltzers Tag beginnt um fünf Uhr morgens, sie liest 45 Minuten lang Nachrichten verschiedener journalistischer Portale und die Botschaften ihrer jungen Mitarbeiter, die in Kalifornien leben, in New York, Paris und auf Fidschi. Danach schreibt sie eine Stunde lang ihren Newsletter - und zwar ganz bewusst so, wie sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten würde. Donald Trump ist "Prez Trump", ein überraschendes Ereignis ist "Jaw, Dropped" (Kinnlade, runtergeklappt), über das Amtsenthebungsverfahren schreibt sie: "Suspense, thick". Fett spannend, das. Ihre Eltern, ein Drehbuchautor und eine Innenarchitektin, lesen anschließend etwa zehn Minuten lang Korrektur, erzählt sie, und um sieben Uhr wird The Cramm verschickt.

Der Newsletter trifft den Ton der Altersgruppe und entwickelt so eine eigene Stimme, es wäre jedoch fatal, sie auf die schnoddrige Sprache zu reduzieren. Wer den Newsletter mit denen vergleicht, die traditionelle Medienhäuser jeden Morgen verschicken, der dürfte feststellen, dass die Themen identisch sind - es geht um Donald Trump, um die Terrorvereinigung ISIS, um Proteste in Bolivien und um die Aussage eines Hollywood-Produzenten, dass die hellhäutige Julia Roberts natürlich die afroamerikanische Fluchthelferin Harriet Tubman spielen könne: "Das ist so lange her, das bemerkt doch keiner." Seltzer notiert: "Ich glaube, der unterschätzt die Macht der Sehkraft."

Was auffällt: Die Autorin wird nie ideologisch oder kommentierend, es wird nach dem Lesen von mehr als 30 Newslettern nicht deutlich, wo sie politisch steht. Sie wertet nicht, selbst wenn sie zum Beispiel über den Rückzug der US-Truppen aus Syrien schreibt: "Quasi ein Daumen hoch für die Türken, die Kurden anzugreifen." Sie benutzt eine eigene Sprache wie etwa "Say Hello", wenn sie eine wichtige Figur einführen möchte, oder "TBD", kurz für "to be decided", und "Stay tuned" für Geschichten, die sich noch weiterentwickeln. Letztlich aber sagt sie nur, was ist.

Sie arbeitet mit einem Kernteam von acht Leuten und 100 Helfern aus aller Welt

Seltzer und ihre Mitarbeiterinnen, die sie "The Cramm Fam" nennt, verdienen kein Geld bei ihrer Arbeit - was auch daran liegt, dass die Chefin unabhängig bleiben und sich keinesfalls dem Verdacht aussetzen will, für Bares ihre Integrität infrage zu stellen.

Es gibt derzeit ein achtköpfiges Kernteam sowie mehr als 100 Helfer aus aller Welt. Irgendwann will Olivia Seltzer das Portal und den Newsletter zu einem Medienhaus ausbauen. Derzeit ist sie, das weiß sie auch, lediglich Kuratorin von Nachrichten, eine Übersetzerin des Weltgeschehens für Gleichaltrige.

"Es gibt kaum journalistisches Angebot von jungen Leuten für junge Leute", sagt sie: "Die Lücke würde ich gerne füllen, das Interesse meiner Generation an politischen und gesellschaftlichen Themen ist groß. Ich arbeite daran, dass wir mehr werden als ein Newsletter."

Also: ein Interview mit der 16 Jahre alten Klimaaktivistin Greta Thunberg, geführt von einer 16 Jahre alten Cramm-Mitarbeiterin. Eine Reportage über die Lage in Syrien, verfasst von einem syrischen Jugendlichen. Ein Kommentar zur Flüchtlingspolitik von Trump aus der Sicht eines südamerikanischen Flüchtlings im Teenager-Alter. Solche Dinge plant sie.

"Meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich, wenn ich was erreichen will, selbst damit anfangen muss", sagt Seltzer, die in der fünften Klasse ein 400-Seiten-Buch über die Gleichstellung von Frauen in der amerikanischen Gesellschaft geschrieben hat. "Wer Journalistin sein will, muss sich nicht unbedingt bei einer Zeitung oder einem TV-Sender bewerben, sondern kann es auch selbst machen."

Genau das habe sie getan, und sie weiß freilich, dass es ein weiter Weg ist vom Newsletter zum Medienimperium. Sie will nun erst einmal die High School beenden, danach Politikwissenschaften studieren und ein Praktikum in Washington absolvieren, Berufsziel, neben dem Newsportal: Anwältin für Menschenrechte.

Es ist doch so: Niemand wird alt und weise, der nicht mal jung und verrückt gewesen ist. Diese junge Frau war verrückt genug, daran zu glauben, dass sie einfach mal so zur Übersetzerin für Gleichaltrige werden kann, und sie hat es geschafft. Ihre Stimme wird gehört, in Dutzenden Ländern. "Wir sind die Generation, die sich um diesen Planeten sorgt und die Veränderungen herbeiführen will", sagt sie. "Wir wollen keine News, die sich anhören, als wären sie für uns Kinder verdummt worden. Wir wollen wissen, was los ist - in einer Sprache, die wir verstehen. Nur dann können wir handeln." Kinnlade, runtergeklappt. Stay tuned.

© SZ vom 18.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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