ARD-Serie "Lindenstraße":Unser kleines Land

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Hans W. Geißendörfer, Erfinder der "Lindenstraße", nimmt jede Folge der Serie selbst ab. (Foto: dpa/picture-alliance)

Seit 28 Jahren immer sonntags will die "Lindenstraße" die Bundesrepublik so zeigen, wie sie wirklich ist. Die Serie ist eine Erfolgsgeschichte mit Abwärtstrend. Jetzt ist die Frage, wie lange die ARD dafür noch bezahlen will. Ein Besuch in Köln.

Von Katharina Riehl

Am vergangenen Sonntag, der wie immer eigentlich ein Donnerstag war, hatte der Hansemann Geburtstag. Es war das 27. Mal, das Hans Beimer in der Lindenstraße feiern konnte, und die Zenkers, seine Ex-Frau Helga samt Lebensgefährten Erich Schiller, der philosophische Asiate Gung und Hansemanns viele Kinder trugen bunt verpackte Kartons in seine Wohnung. Da saßen sie dann, die Lindenstraßen-Bewohner, die seit Dezember 1985 dort gemeinsam alt geworden sind. Und Gabi Zenker machte einen Witz, den nur verstehen konnte, wer ungefähr genauso lange auch zugesehen hat.

Die Lindenstraße gehört wie kaum eine andere Fernsehsendung zum bundesdeutschen Unterhaltungsinventar. Seit bald 30 Jahren läuft sie immer sonntags am frühen Abend, erzählt werden Lebensgeschichten aus einem Münchner Mehrfamilienhaus, jede Sendung spielt an einem Donnerstag, gerne angereichert mit politischen Kurzgesprächen. Und so löste die Bild-Zeitung eine mittelgroße Aufmerksamkeitswelle aus, als sie das vor ein paar Wochen das mögliche Ende der Serie vorhersagte: "Der Lindenstraße droht das Aus!" Der verantwortliche Sender WDR versuchte, zu beschwichtigen.

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Drei Monate später läuft die Lindenstraße noch immer, und in Köln scheint die Sonne auf den Bürgersteig vor dem Friseursalon, in dem Mutter Beimer seit Jahrzehnten ihre Locken legen lässt. Die Kulisse ist leer, gedreht wird ums Eck vor dem Eingang zum Wohnhaus Nummer 3. Auf dem 8000 Quadratmeter großen Gelände steht auch ein großes Bürogebäude. In der Mitte eines langen, etwas muffigen und mit unendlich vielen gerahmten Fotos geschmückten Flurs, liegt das Büro von Hans W. Geißendörfer, dem Erfinder, dem Chef, der Lindenstraße.

Die Zukunft der Serie ist Verhandlungssache

Hans W. Geißendörfer ist wahrscheinlich der einzige Fernsehmacher in diesem Land, auf den der amerikanische Begriff des Showrunners, des Serienplaners und Figurenlenkers, zutreffen könnte. Geißendörfer nimmt jede Folge selbst ab, keine Figur entwickelt sich, ohne, dass er damit einverstanden wäre. Das geht so seit 1985. Geißendörfer trägt die schwarze Wollmütze, die er immer trägt. Er lehnt sich weit in seinem Bürostuhl zurück und sagt: "Ich kann nicht behaupten, dass die Lindenstraße noch zehn Jahre läuft, aber ich habe gute Signale dafür, dass wir auch nach dem Jahresende 2014 noch weitermachen dürfen. Offiziell ist der Vertrag für danach noch nicht verlängert, aber wir sind am Verhandeln." Klingt ok, heißt aber auch: Die Zukunft der Serie ist Verhandlungssache.

Die Geschichte der Lindenstraße ist eine Erfolgsgeschichte mit Abwärtstrend. In den ersten Jahren, als die deutsche Fernsehlandschaft noch ein wenig übersichtlicher war, sahen sonntags mehr als zehn Millionen Menschen zu. Heute sind es 2,67 Millionen. Das ist deutlich weniger, aber für den frühen Abend ist das immer noch eine gute Zahl. Die vielen lustig gemeinten Lokalkrimis, die das Erste unter der Woche vor der Tagesschau zeigt, erreichen im Schnitt 1,36 Millionen Zuschauer. Der kleine Erfolg der Lindenstraße aber ist im ARD-System offenbar nicht allen gut genug. Hans W. Geißendörfer sagt: "Wenn die Quote mal total im Keller ist, dann muss man aufhören. Da wäre ich auch gar nicht so traurig." Noch ist es nicht so weit.

Die Lindenstraße, das weiß auch Geißendörfer, ist keine Hochkultur, die man für ein verschwindend geringes Publikum qua Bildungsauftrag schützen müsste. Aber die Lindenstraße ist in einem Fernsehland, das beschlossen hat, dass ohne Leiche heute kein Programm mehr zu machen ist, trotzdem etwas Besonderes. Geißendörfer will die Bundesrepublik zeigen, wie sie ist. Ohne Nonnen, die in jeder Folge ihrer Serie die Welt retten. Ohne alberne Kommissare, die am Ende den Ehemann verhaften. Manchmal ist auch die Lindenstraße furchtbar bescheuert. Aber man wird Geißendörfer, dem bis heute 68er-bewegten Autor, Regisseur, Produzenten, nicht vorwerfen können, mit seiner Serie nichts bewegen zu wollen.

Es ist sein politischer Geist, der die Erzählungen in der Lindenstraße vorantreibt, Harald Martenstein hat es vor vielen Jahren in einem kleinen Büchlein mäßig liebevoll so beschrieben: Die Lindenstraße, heißt es, erhebe den Anspruch, deutsche Realität abzubilden. "In Wirklichkeit bildetet die Lindenstraße, wie jeder weiß, eher die Frankfurter Rundschau ab."

In Hans W. Geißendörfers Serienfamilien sind es soziale Ungerechtigkeiten, die Probleme schaffen. Hartz IV wird kritisiert, einst demonstrierte Benni Beimer gegen Atomstrom. Große gesellschaftliche Fragen im ganz kleinen Friseursalon. In der Lindenstraße gab es den ersten Aids-Toten im deutschen Fernsehen und den ersten Kuss zwischen zwei Männern. Es gab Zeiten, in denen der konservative Bayerische Rundfunk sich weigerte, bestimmte Szenen zu zeigen. Dass die Frankfurter Rundschau vergangenes Jahr pleiteging, es ihr Milieu so nicht mehr gibt, könnte auf der Suche nach dem verlorenen Lindenstraßen-Zuschauer mehr sein als eine Randnotiz.

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Fernsehen nach dem Mehrheitsprinzip

Die Lindenstraße ist ein Gemeinschaftsprodukt der ARD, je nach Sendergröße fällt die finanzielle Beteiligung aus. Weil alle Sender zahlen, wollen auch alle mitreden, weshalb sich am Beispiel der Lindenstraße auch davon erzählen lässt, wie im öffentlich-rechtlichen Deutschland Fernsehen gemacht wird. Geißendörfer, der zwar sagt, dass er "bis heute vergleichsweise viel Freiheit und inhaltlich kaum Auflagen" habe, muss seine Geschichten fürs nächste Halbjahr stets einem Lindenstraßen-Beirat vorlegen, in dem Vertreter der Sender sitzen.

Da, sagt Geißendörfer, gebe "es dann Mehrheitsentscheidungen, und wenn der Beirat eine bestimmte Figur nicht raushaben möchte, die ich aus guten Gründen rausschreiben will, dann entscheiden die: die soll bleiben." Und: In seinem Vertrag stehe, dass "ich bei neuen Hauptrollen 50 Prozent Entscheidungsfreiheit habe und 50 Prozent der Sender, wir uns also einigen müssen." Fernsehen nach dem Mehrheitsprinzip. Ein amerikanischer Showrunner würde den Drehbuch-Demokraten einen Vogel zeigen.

Auch Hans W. Geißendörfer beschäftigt natürlich die Frage, warum seine Lindenstraße heute nicht mehr so viele Zuschauer erreicht wie anfangs - und als noch vor fünf Jahren. Im Guardian hat er einen Artikel gelesen über die Schwierigkeiten der britischen Seifenopern, nach dem Besuch schickt er den Text per Mail. Es geht darin auch um die Frage, ob EastEnders und Coronation Street sich zu sehr vom wahren Leben und sozialen Problemen abgewandt haben. "Wir sind", sagt Geißendörfer, "etwas zu soapig geworden." Jetzt mache man den Versuch, "zum Urkern der Lindenstraße nicht zurück-, sondern vorwärtszugehen". Was auch immer er dort findet.

© SZ vom 11.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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