Fundstücke:Grüße aus der Vergangenheit

Lesezeit: 4 min

Inhalt einer Zeitkapsel aus den 1920er-Jahren, gefunden in Steubenville, USA. Darin, unter anderem: ein blaues Jahrbuch von 1924. (Foto: Twitter/Diocese of Steubenville @diosteub)

Das Drehbuch für "Vom Winde verweht", Toaster, Munition, Münzen: Zeitkapseln erzählen erstaunliche Geschichten. Gerade erst wurden wieder zwei in den USA gefunden.

Von Marija Barišić

Die wohl schmerzhafteste Erkenntnis im Leben ist die, dass alles vergeht. Alle Menschen, die einem lieb sind, alles, was man besitzt, sieht und erlebt, wird irgendwann nicht mehr sein. Dieses Wissen um die eigene Vergänglichkeit weckt nicht nur Angst, sondern vor allem eine tiefe Sehnsucht, die die US-amerikanische R'n'B-Ikone Beyoncé Knowles in ihrem Lied "I was here" einmal gut auf den Punkt gebracht hat : I want to leave my footprints on the sands of time. Know there was something that I left behind, singt sie darin . Zu wissen also, dass man nicht nur auf dieser Welt war, um irgendwann zu sterben, sondern auch Spuren hinterlassen konnte. Wer will das nicht?

Es scheint ein Wunsch zu sein, den es schon lange gibt. Vor Kurzem erst fanden Bauarbeiter in der US-amerikanischen Kleinstadt Steubenville beim Abriss einer alten katholischen Privatschule eine Zeitkapsel aus den 1920er-Jahren, die im Grundstein des Gebäudes verborgen lag. Nur ein kleiner Behälter aus der Vergangenheit, in dem Fall eine alte Box aus Messing, in die damals jemand - vermutlich eine Nonne oder ein Priester - neun Gegenstände hineingelegt hatte, die er für wichtige Zeugnisse seiner Zeit hielt. Darunter: ein Jahrbuch, eine Liste mit den Mitgliedern der Kirchenversammlung, eine Urkunde, datiert auf den 13. Juli 1924, den Tag also, an dem der Grundstein für die Schule gelegt worden war.

Psychologie
:Welche Erinnerungen machen uns glücklich?

Dieser Frage ist der dänische Glücksforscher Meik Wiking nachgegangen. Und er hat eine eigene Methode entwickelt, mit der man gute Erinnerungen erzeugen kann.

Von Fabrice Braun

Es ist nicht das erste Mal, dass Bauarbeiter auf einen solchen Fund stoßen. Nur wenige Wochen zuvor öffnete ein Team von Restauratorinnen eine noch ältere Zeitkapsel aus dem 19. Jahrhundert, sie war im Sockel einer Statue im US-Bundesstaat Virginia versteckt gewesen. Mehrere Stunden lang wurde die Öffnung live im Internet übertragen. Das Interesse war groß, der Fund eher unspektakulär: Bücher, Münzen, Munition aus dem Bürgerkrieg, eine Bibel, eine kleine Konföderierten-Flagge. Viel mehr war da nicht zu sehen.

Geschätzt 10 000 bis 15 000 Zeitkapseln weltweit warten darauf, gefunden zu werden

Und obwohl auch in den meisten anderen Zeitkapseln bisher nichts wahnsinnig Überraschendes entdeckt werden konnte, geht eine gewisse Magie von ihnen aus. Denn das Faszinierende an so einer Zeitkapsel ist gar nicht ihr Inhalt, sondern, dass sie etwas schafft, wovon der Mensch nur träumen kann: durch die Zeit zu reisen, ohne zu vergehen. Und dabei auch noch ein Stück Gegenwart in die Zukunft hinüberzuretten. Vorausgesetzt, sie wird überhaupt gefunden.

Die International Time Capsule Society (ITCS), eine amerikanische Vereinigung, die seit 1990 Daten zu Zeitkapseln sammelt, schätzt, dass derzeit rund 10 000 bis 15 000 Zeitkapseln weltweit auf ihre Entdeckung warten. Bei 80 Prozent, also den allermeisten von ihnen, wird das laut ITCS allerdings nie passieren. Weil sie gestohlen, zu schlecht verstaut oder ihre Verstecke nie verraten wurden. Bleiben also noch zwanzig Prozent, auf die der Mensch sich freuen darf.

Eine der wohl bekanntesten Zeitkapseln, die zu diesen 20 Prozent gehören, ist die "Krypta der Zivilisation". "Kapsel" ist in dem Fall leicht irreführend, es ist ein früheres Schwimmbad der Oglethorpe University in Georgia, das ab 1936 zu einem riesigen Safe umgebaut und 1940 luftdicht versiegelt wurde. Die Idee dazu hatte der Historiker Thornwell Jacobs, der damals auch Präsident der Universität war. Sein Ziel war es, nachfolgenden Generationen einen möglichst realistischen Einblick in das Leben der 1930er-Jahre zu ermöglichen. So lagern in der "Krypta der Zivilisation" heute Tausende Alltagsgegenstände von damals: Schreibmaschinen, Toaster, eine lebensgroße Donald-Duck-Puppe oder Telefone. Außerdem: 640 000 Seiten Literatur, die Jacobs für repräsentativ hielt, darunter die Bibel oder das Drehbuch für "Vom Winde verweht". Was sonst noch in der Riesen-Zeitkapsel steckt, werden die nächsten Generationen jedenfalls nicht mehr erfahren. Denn sie darf erst im Jahr 8113 geöffnet werden.

Noch spannender dürften die Zeitkapseln an Bord der zwei Raumsonden mit dem Namen Voyager sein, die die NASA im Sommer 1977 in den Weltraum schickte. Die Kapseln waren genau genommen zwei mit einer Goldschicht überzogene Bild-Ton-Platten mit Botschaften an mögliche außerirdische Zivilisationen. Das Ziel war, ein Zeugnis vom Leben auf der Erde zu schaffen, das die Menschheit selbst überdauern sollte.

Auf beiden Datenplatten, die als "Voyager Golden Records" bekannt wurden, sind jeweils 115 Fotos des Planeten Erde und des Menschen gespeichert, außerdem 90 Minuten Musik (etwa die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts "Zauberflöte"), ein Audio-Essay über "Die Geräusche der Erde" (mit Tonaufnahmen von Wind und Regen oder typisch menschlichen Geräuschen wie Herzklopfen und Lachen) sowie Grüße in 55 Sprachen. Neben Deutsch ("Herzliche Grüße an alle") und Englisch ("Hello, from the children of the planet Earth") sind das etwa Arabisch ("Grüße an unsere Freunde auf den Sternen. Wir würden euch gern einmal treffen"), Bengali ("Hallo! Möge überall Frieden herrschen") oder etwa Mandarin-Chinesisch ("Hoffen, euch allen geht es gut. Wir denken an euch alle. Bitte, kommt hierher und besucht uns, wenn ihr Zeit habt!").

Interessant auch, was einer der Mitwirkenden, Jon Lomberg, später über die Auswahl der Bilder für die Voyager-Kapseln schrieb: "Wir einigten uns darauf, Krieg, Krankheit, Verbrechen und Armut nicht darzustellen. (...) Wir beschlossen, dass das Schlimmste von uns nicht in die Galaxis geschickt zu werden brauchte." Zeitkapseln stehen also nicht nur dafür, was ihre Absender hinterlassen, sondern vor allem auch dafür, was sie keinesfalls hinterlassen wollen.

Eines haben sie aber jedenfalls alle gemeinsam: Sie sind eine Liebeserklärung an die Zukunft. Denn wer heute eine Zeitkapsel unter der Erde verbuddelt, glaubt auch daran, dass es eine zukünftige Generation geben wird, die sich dafür interessieren könnte. Wobei unter der Erde verbuddeln eigentlich eine schlechte Idee ist, die ICTS rät davon ab. Im Grundstein eines Gebäudes oder in der Wand verstauen, dort ist die Zeitkapsel besser vor Wasser geschützt. Und kommt auch sicher in der Zukunft an.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusHandy-Fotografie
:Sind unsere Bilder noch zu retten?

Schießen, horten, vergessen: Täglich machen wir Fotos, die niemand interessieren. Doch Fotografieren bedeutet heute mehr als das Festhalten von Erinnerung. Ein paar Denkanstöße, wie sich die wirklich wichtigen Momente bewahren lassen.

Essay von Hannes Vollmuth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: