Nachdem der Sohn aus dem Haus war, kam die große Leere. Immer öfter gerieten Sarah und Kai Bergmann ( Name von der Redaktion geändert) wegen Kleinigkeiten aneinander. Zugleich wurde es immer stiller zwischen dem Paar. Es ließ sich nicht mehr leugnen: Etwas war ihnen abhanden gekommen. Vielleicht nicht gleich die Liebe. Aber auf jeden Fall das Gefühl füreinander. Der unbeschwerte Umgang, wenn sie allein miteinander waren. Und die Fähigkeit, miteinander zu reden. Ohne sich zu streiten.
Beim Stichwort Paartherapie winkten beide ab. Abgesehen davon, was das an Zeit und Geld in Anspruch nehmen würde: War es nicht ein bisschen früh für sowas? Schließlich wollten sie ja zusammenbleiben - nur wussten sie nicht so recht, wie. Was sie brauchten, war eher eine Orientierungshilfe; eine Art Coaching, das ihnen erklärte, wie es weitergehen konnte.
Im Internet durchstöberte Sarah diverse Foren. Immer mehr Menschen nutzen heute Smartphone, Apps und Video-Chat, um ihren Beziehungsalltag zu organisieren und Zeit miteinander zu verbringen - oder zum Streitschlichten. Für solche Tools hat sich mittlerweile ein eigener Markt entwickelt, die York Times widmete dem Thema bereits einen Artikel. Sarah klickte sich durch verschiedene Portale und Apps, die eine mobile Beratung anboten. Auf der Homepage des Münchner Paartherapeuten David Wilchfort stieß sie auf ein Online-Angebot namens "1x1 der Liebe".
Das Angebot unterscheidet sich von anderen Beratungsplattformen, weil es keine Paartherapie ersetzen will, sondern sich vor allem an Paare richtet, die ihre Partnerschaft revitalisieren oder stabilisieren wollen. Das Konzept ist ungewöhnlich - und ungewöhnlich simpel: wenig, dafür regelmäßig Zeit in die Beziehung zu investieren, eine Minute am Tag soll ausreichen. Wenn Sarah daran dachte, wie viele Stunden sie bereits in sinnlose Streitereien investiert hatten, war das wohl das geringste Problem. Also fragte sie Kai, ob sie beide es nicht versuchen wollten.
Wie Zähneputzen
Seit drei Wochen sammeln Sarah und Kai nun "Rosinen" - so nennt Wilchfort die Highlights des Beziehungsalltags, um die sich sein Modell dreht: Jeden Abend sollen sich beide getrennt voneinander überlegen, worüber sie sich beim anderen besonders gefreut haben. Eingeloggt unter anonymem Namen trägt jeder seinen persönlichen "Liebesmoment" in ein Online-Formular ein, wo er anschließend archiviert wird. Es sind Sätze wie "Dass Du gleich angerufen hast, damit ich mir keine Sorgen mache" oder "Als wir gemeinsam über den Witz unseres Sohnes lachen mussten". Am Ende der Woche nehmen sich beide eine Stunde füreinander Zeit und teilen ihre Erkenntnisse einander mit.
"Zuerst kam es uns komisch vor", berichtet Sarah, "aber inzwischen ist es wie Zähneputzen. Man muss sich nur daran gewöhnen, dann tut man es automatisch." Durch die täglichen Beiträge, die archiviert werden, entsteht mit der Zeit ein persönliches Blog, das dem Paartherapeuten einen Eindruck davon vermittelt, was die Partner voneinander erwarten und wie sie miteinander umgehen. Zwischendurch schickt der Psychologe einen spezifischen Vorschlag oder eine Aufgabe an das Paar. Die Ausrichtung auf das Positive helfe nicht nur, den anderen in einem neuen Licht zu sehen. Sie entkräfte auch die allgegenwärtige Abwehrhaltung, weil der Angriff entfällt. "Positives Denken erzeugt positives Handeln", ist der Therapeut überzeugt. "Es ist besser, am Abend nach dem Positiven zu suchen, als vor dem Schlaf darüber nachzugrübeln, was einen geärgert hat."
Ähnliche Anwendungen wie die Münchner App fungieren als digitale Beziehungsberater. Zum Beispiel die Neuerscheinung "Couple Counseling & Chatting" - eine App, für die die US-Paartherapeutin Marigrace Randazzo-Ratliff eine Art ambulante Beziehungshilfe konzipiert hat. Die Website bietet schnellen, direkten Kontakt mit einem Paar-Therapeuten, bei akuten Kommunikationsproblemen können Paare sich über eine Chat-Funktion schnelle Unterstützung holen und sich zeigen lassen, wie man dem anderen das Gefühl gibt, dass man ihm zuhört und Anteilnahme signalisiert. Den Paaren werden Aufgaben gestellt, mit deren Hilfe sie ihre Beziehung stärken sollen.
Jederzeit und überall
Virtuelle Beratungsräume ermöglichen Paaren, zu jeder Zeit und von jedem Ort der Welt mit ihrem Betreuer zu kommunizieren. Dort kann sich der Therapeut sowohl mit den einzelnen Partnern als auch mit dem Paar verabreden. Das ist praktisch: Das Koordinieren der Termine für drei Personen oder die Organisation eines Babysitters entfällt.
Die Kommunikation im virtuellen Raum macht es den Beteiligten aber auch aus therapeutischer Sicht einfacher: "Häufig erleichtert die räumliche Trennung das Gespräch", sagt Paartherapeut Ragnar Beer. Der Psychologe leitet das Online-Therapie-Projekt "Theratalk", das 1996 erstmals von der Universität Göttingen im Rahmen einer Studie getestet wurde. Seit 2002 bieten Beer und sein Therapeuten-Team "Theratalk" offiziell als Online-Paartherapie an. Ähnlich wie bei einer konventionellen Paartherapie kommunizieren die Partner regelmäßig mit dem betreuenden Psychologen - nur nicht in einer Praxis, sondern in einem Chatroom.
"Erst mal lässt es sich über manche Dinge leichter reden, wenn man sie dem Therapeuten nicht ins Gesicht sagen muss - womöglich in Anwesenheit des Partners", sagt Beer. Gerade, wenn es um schambehaftete Themen gehe, etwa um sexuelle Bedürfnisse oder Probleme, erleichtere die Chat-Situation das Gespräch.
Abgesehen davon ließen sich auf diesem Wege vor allem destruktive Streitereien vermeiden. "Viele Menschen reagieren empfindlich auf Äußerungen ihres Partners und unterbrechen ihn sofort." Im Chat hingegen müsse man bis zum Ende zuhören - beziehungsweise mitlesen. "Dadurch greifen die üblichen Automatismen nicht so leicht, jeder kann in Ruhe überlegen." Besonders Männer würden davon zu profitieren, dass sie beim Schreiben die Zeit hätten, das auszuformulieren, was sie denken und fühlen.
Zu Beginn von "Theratalk" erschien das Projekt dem Göttinger Psychologen noch undenkbar, doch mittlerweile ist Ragnar Beer von dem Konzept so überzeugt, dass er ausschließlich die virtuelle Paarberatung praktiziert.
Virtuelle Beziehungspflege
Auch David Wilchfort schätzt die Vorteile der virtuellen Kommunikation bei seiner Arbeit in der Praxis. Regelmäßig arbeitet der Münchner Paartherapeut mit seinen Klienten über Chats, per Mail oder Skype. "In einer Mail haben die Leute mehr Zeit zu antworten", sagt der Psychologe. "Außerdem sprechen sie im Vergleich zur realen Sitzung manchmal freier und trauen sich eher, Kritik zu äußern, weil sie weniger Angst vor der Wut des Partners haben."
Genau das ist es, was Kai am Prinzip des "Rosinensammelns" gefällt: dass die Rosinen vom anderen nicht gleich aussortiert oder gar ausgespuckt werden können. "Die Äußerungen können einfach mal im wertfreien Raum stehen bleiben - ohne, dass der andere sofort reagiert."
Nach drei Monaten haben Sarah und Kai erkannt, dass sich durch das "1x1 der Liebe" zwar nicht jedes akute Problem lösen lässt, aber auf jeden Fall die Voraussetzungen dafür geschaffen werden - "indem man wieder miteinander ins Gespräch tritt, sich miteinander beschäftigt und sich mit der Beziehung auseinandersetzt." Heute sehen sich die beiden mit anderen Augen. Nein, eigentlich so, wie sie sich damals gesehen haben, als sie sich kennen lernten. Und das ist das Schönste überhaupt: Jetzt verstehen sie wieder, warum sie sich damals ineinander verliebt haben.