Alle reden vom Islam - doch nach Ansicht führender deutscher Migrationsforscher wird die Rolle, die Religion für die Integration von Einwanderern spielt, "allgemein überschätzt". Und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen sehen die Wissenschaftler keine belastbaren Belege dafür, dass die Religion oder die Religiosität eines Migranten dessen Teilhabe an Bildung oder Arbeitsmarkt grundsätzlich erschwert. Zum anderen lassen sich für sie Unterschiede, die es bei der Integration verschiedener religiöser Gruppen gibt, auch "nicht in erster Linie" auf die Religionszugehörigkeit zurückführen.
Zentraler Erklärungsfaktor für Erfolg und Misserfolg in der Schule und am Arbeitsmarkt "ist und bleibt der soziale Hintergrund", heißt es in dem Jahresgutachten, das der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) am Dienstag in Berlin vorstellte.
Unter dem Titel "Viele Götter, ein Staat" haben sich die Sachverständigen mit der religiösen Vielfalt im Einwanderungsland Deutschland auseinandergesetzt. Haupttenor des Gutachtens: Entwarnung. Zwar räumen die Forscher ein, dass die wissenschaftlichen Befunde noch dünn, oft zweideutig und bisweilen widersprüchlich sind. Für "eindeutig" allerdings halten sie die Erkenntnis, dass "religiöser Pluralismus nicht generell den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährdet".
Integrationsklima laut Befragung stabil freundlich
Gerade die Integration des Islam in Deutschland sei rechtlich und institutionell "viel weitreichender und erfolgreicher verlaufen, als oft angenommen wird", lobte die SVR-Vorsitzende Christine Langenfeld. Deutschlands Politik der Religionsfreundlichkeit, angewendet auch auf die Religionen der Zuwanderer, habe sich bewährt. Langenfeld begrüßte ausdrücklich, dass die Politik - etwa bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen - den hier lebenden Muslimen weit entgegengekommen sei. Nun seien "die Muslime am Zug", sich so zu organisieren, dass sie als Religionsgemeinschaft den Kirchen und der jüdischen Gemeinde gleichgestellt werden können.
Wie weit der Islam jedoch bei den Deutschen angekommen ist, dazu liefert eine Befragung des SVR freilich durchaus zwiespältige Ergebnisse: Demnach sind zwei Drittel der Befragten ohne Migrationshintergrund dafür, dass islamischer Religionsunterricht Wahlfach an den Schulen sein sollte.
Drei Viertel hätten demnach auch kein Problem mit dem Bau einer als solcher erkennbaren Moschee in ihrer Nachbarschaft. An der abstrakten Feststellung "Der Islam ist ein Teil Deutschlands" spalten sich jedoch die Meinungen: 53 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund lehnen die Aussage ab, 47 Prozent stimmen ihr zu.
Insgesamt zeigt das SVR-Integrationsbarometer, ein nach der Befragung von mehr als 5000 Menschen mit und ohne Migrationshintergrund errechneter Index, ein stabil freundliches Integrationsklima an - das heißt: Eine deutliche Mehrheit der Menschen beurteilt ihre Erfahrungen mit der Integration von Einwanderern überwiegend positiv. Befragt wurden die Menschen allerdings bereits im Sommer 2015, also noch zu Beginn des rapiden Anstiegs der Flüchtlingszahlen und lange vor den Terroranschlägen von Paris und Brüssel.
Tatsächlich stellen auch die Sachverständigen einen Zusammenhang zwischen Religion und Demokratiefeindlichkeit fest. Mit wachsender Religiosität steigt demnach die Zustimmung zu fundamentalistischen Positionen. Das sei zwar religionsübergreifend so, aber bei Muslimen deutlich ausgeprägter als bei Christen. Und während stark religiöse Christen weniger oft straffällig werden, lässt sich dieser Effekt bei muslimischen Männern nicht beobachten.
Forscher betonen die wichtige Rolle der Schulen
In die "politisch korrekte Empörung", dass der heutige Terror nichts mit dem Islam zu tun habe, wollen die Forscher ausdrücklich nicht einstimmen. Die Aussage sei "nicht völlig falsch, aber auch nicht vollkommen richtig". Zwar radikalisierten sich junge Menschen in der Regel jenseits von Familien und Moscheen, bezögen aber ihre Selbstrechtfertigung aus fundamentalistischen Interpretationen des Koran.
Von muslimischen Verbänden und Theologen fordern die Gutachter daher, sich um einen "pluralismusfähigen" Islam zu bemühen. So solle ein muslimischer Lagerarbeiter Bierkisten einräumen können, "ohne in Gewissensnöte zu geraten". Besonders betonen die Sachverständigen angesichts zunehmender religiöser Vielfalt die Rolle der Schulen. Ausnahmeregeln für Eltern, die ihre Kinder aus religiösen Motiven von Teilen des Unterrichts, etwa Schwimmen, Sport oder Sexualkunde, befreien wollen, lehnen sie strikt ab.