Sterbehilfe für Kinder:Den Todeswunsch ernst nehmen

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Deutsches Kinderschmerzzentrum

Boris Zernikow, Chefarzt für Kinderschmerztherapie an der Kinder- und Jugendklinik in Datteln.

(Foto: picture alliance / dpa)

Süddeutsche.de: Hat ein Kind Sie schon einmal gebeten, sterben zu dürfen?

Boris Zernikow: Einmal, ja. Ein Jugendlicher, dessen Wirbelsäule durchsetzt war von einem Tumor. Er hatte schlimmste Schmerzen - in so einem Fall spricht man von Vernichtungsschmerz. Er sagte: "Wenn ihr mir nicht versprechen könnt, dass dieser Schmerz aufhört, müsst ihr mir versprechen, dass ihr mich tötet." Zugleich lehnte er es ab, die Dosis der Schmerzmittel zu erhöhen, weil er sonst nicht mehr in der Lage gewesen wäre, mit seiner Freundin zu sprechen. Die Menschen sind im Sterben irrational, es ist weitaus diffuser, als es die belgischen Politiker vor laufender Kamera darstellen. Was der Junge eigentlich ausdrücken wollte, war: Dieser Schmerz ist nicht auszuhalten.

Süddeutsche.de: Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir fanden eine Lösung. Dem Jungen wurde eine computergesteuerte Schmerzpumpe eingesetzt, die ihn auf Knopfdruck für ein bis zwei Stunden sedierte. Dann ging der Schmerz, und er konnte wieder weiterleben. Er wollte etwas haben, dass ihn ausknockt, aber er wollte deshalb nicht sterben. Die Pumpe hat er in den letzten Wochen seines Lebens zweimal benutzt.

Süddeutsche.de: Nahmen Sie seinen Todeswunsch dennoch ernst?

Kinder ernst zu nehmen, bedeutet nicht, genau das zu machen, was sie sagen. Ich kann ihre Wünschen respektieren, ohne diese sofort umzusetzen. Das gilt auch für gesunde Menschen: Wenn ein Mädchen Model werden möchte, muss ich nicht versuchen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Ich sollte aber versuchen zu verstehen, was hinter dem Wunsch steht. Am besten fragt man danach.

Süddeutsche.de: Welche Motive können dazu führen, dass Kinder sterben wollen?

Das kommt auf das Alter, aber auch auf die Persönlichkeit an. Ich hatte einen Fünfjährigen, der sagte: "Ich weiß nicht, wie es wird, aber ich glaube, es wird schön." Weil er keine Vorstellung vom Tod als unumkehrbarem Ereignis hatte, sondern von einem Zustand. Eine 13-jährige Pubertierende setzt so eine Aussage womöglich ein, um die Eltern unter Druck zu setzen. Andere fühlen sich verantwortlich, wie Scheidungskinder, die glauben, dass es ihre Schuld ist, wenn die Eltern sich trennen. Dann äußern sie einen Todeswunsch, weil sie sehen, dass ihre Eltern nicht mehr können.

Süddeutsche.de: Was brauchen sterbende Kinder?

Kein Mensch sollte alleine sterben, Kinder schon gar nicht. Darüber hinaus benötigen sie eine Versorgung durch Spezialisten. Deshalb ist es so scheinheilig, dass wir abfällig und entsetzt über die Belgier reden, aber es nicht schaffen, eine ausreichende Palliativmedizin in Deutschland zu finanzieren.

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