Stadtführer:Rom für Obdachlose

obdachlose

Der Bahnhof Roma Termini ist ein Treffpunkt der Obadachlosen in der Stadt.

(Foto: ANTONIO CARLEVALE; Antonio Carlevale/Sant'Egidio/oh)

Wo schlafen, wo essen, wo sich waschen? In Rom beantwortet ein besonderer Stadtführer die wichtigsten Fragen von Obdachlosen. Immer mehr Menschen haben dort keine Bleibe - besonders nach dem jüngsten Mafia-Skandal.

Von Elisa Britzelmeier, Rom

Dass es direkt am Hauptbahnhof in Rom kostenlos belegte Brötchen gibt, weiß Richard nur dank des Büchleins. Sonst stünde er jetzt nicht in der Schlange hinter der Stazione Termini. Vespas rauschen vorbei. Touristen ziehen ihre Rollkoffer über den Gehsteig. Richard ist Franzose, stellt sich aber als Riccardo vor, damit ihn hier jeder versteht. Nachnamen findet der 49-Jährige nicht so wichtig.

Das Büchlein steckt immer in der rechten Tasche seines Parkas. Ein Griff, er zieht es hervor, schaut auf die offenen Seiten, dann auf das Bahnhofsgebäude, wieder auf die Seiten. Taschenbuchformat, vorne drauf ein Bild vom Petersdom, der Name der ewigen Stadt in Großbuchstaben auf der Titelseite - es sieht aus wie ein Reiseführer. Aber es ist kein gewöhnlicher Reiseführer und Richard kein Tourist. Das Buch ist ein Leitfaden für Obdachlose. Deshalb erfährt man darin nichts zur Bedeutung des Kolosseums im Alten Rom oder zur Geschichte des Trevi-Brunnens, sondern Antworten auf lebenswichtige Fragen: "Wo essen, schlafen, sich waschen."

Das Taschenbuch listet Adressen von Ärzten und Kleiderbörsen auf, von Suppenküchen und Essensausgaben auf der Straße, von kostenlosen Dusch- und Waschmöglichkeiten. Dazu gehört ein laminierter, schmutzabweisender Stadtplan. Richard faltet die Karte auseinander und deutet auf die Symbole. Ein Sandwich, ein rotes Kreuz, ein Bett. "Alles auf einen Blick, super nützlich", sagt er.

Obdachlose in Rom

Am Bahnhof Termini verteilen Hilfsorganisationen belegte Brote.

(Foto: Antonio Carlevale/Sant'Egidio)

Richard trägt die Haare lang, mit einem Tuch hält er sie über der Stirn zurück. Ein bisschen wie Captain Jack Sparrow in Fluch der Karibik. Richard weiß nicht mehr genau, wie lange er schon keine Wohnung mehr hat. Seit eineinhalb Jahren ist er durch Europa unterwegs. Vor drei Wochen kam er mit dem Fahrrad nach Rom gefahren, sein Gepäck in Plastiktüten festgeschnürt.

Wirtschaftskrise verschlimmert die Lage

Nicht nur an Menschen wie ihn, die neu sind in der Stadt, richtet sich der Stadtführer. Sondern auch an die, die schon ihr ganzes Leben in Rom verbringen - ohne die aktuellen Anlaufstellen der Hilfsorganisationen zu kennen. Herausgegeben und gratis verteilt wird das Buch von der katholischen Laien-Gemeinschaft Sant'Egidio, jedes Jahr neu, mittlerweile in der 25. Auflage. Als Gruppe von Studenten und Schülern entstand Sant'Egidio 1968 in Rom. Heute gibt es sie auf der ganzen Welt - und den Stadtführer auch in Mailand, Neapel, Genua und Padua, in Madrid und Barcelona, und in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

Wieviele Menschen in Rom auf der Straße leben, weiß niemand genau. Die Stadtverwaltung nennt keine Zahlen, vielleicht auch weil ständig neue Obdachlose dazukommen. Der Helfer von Sant'Egidio sprechen derzeit von etwa 7800 Menschen ohne festen Wohnsitz. Die Krise, die Italiens Wirtschaft seit Jahren lähmt, verschlimmert die Lage. Hunderttausende haben ihren Job verloren, viele danach auch die Wohnung. Dazu kommen oft Schulden, Scheidungen und psychische Probleme. Gründe für Obdachlosigkeit gibt es viele, jeder Betroffene kann eine andere Geschichte erzählen.

Viele kamen aus Osteuropa, auf der Suche nach Arbeit, die sie nie fanden. Am Bahnhof Roma Termini sieht man auch reihenweise afrikanische Flüchtlinge. Für die meisten ist Rom nur Zwischenstation. Wenn sie das Geld für die Fahrkarte zusammenhaben, wollen sie weiter, nach Deutschland zum Beispiel.

In Rom gibt es besonders wenige Notunterkünfte

Im Vergleich zu anderen europäischen Städten schlafen in Rom besonders viele Menschen direkt auf der Straße, in Hauseingängen, an den Bahnhöfen; die wenigsten kommen in Notunterkünften oder Wohnheimen unter, wie eine Erhebung von Forschern der Mailänder Universität Bocconi im Jahr 2014 ergab.

In einer Ecke hinter Richard haben sich zwei Männer im Schlafsack zusammengerollt. Über ihnen an der Wand hängt ein Schriftzug. Eine Art Dekoration, rot und gold glänzend, zerknickt, wie aus dem Müll gerettet. Buon Natale, Frohe Weihnachten.

Wenn man sich mit Richard und seinem Büchlein auf den Weg durch die Stadt macht, trifft man Menschen wie Alessandro Caradossi. Normalerweise arbeitet er bei der römischen Universitätsverwaltung, doch jetzt verteilt er Tee, Suppe und belegte Brote. So wie es im Stadtführer - den die Obdachlosen "guida" nennen - auf Seite 22 steht. "Obdachlose werden auf Italienisch oft 'Unsichtbare' genannt. Doch das sind sie nicht", sagt Caradossi. Er und die anderen Helfer von Sant'Egidio nennen sie "Freunde".

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