Serie Kinderwelten: Delhi, Indien:Kiran malt den Götterhimmel

Lesezeit: 3 min

Kiran, 14, aus Delhi, Indien (Foto: Arne Perras)

Die 14-jährige Kiran wohnt in einem Neubauviertel am Rande der 18-Millionen-Metropole Delhi. Ihr Vater arbeitet Tag und Nacht als Taxifahrer, damit seine Tochter auf die Privatschule gehen kann und irgendwann vielleicht Teil der neuen indischen Mittelklasse wird.

Von Arne Perras, Delhi

Spielen? Lernen? Arbeiten? Wie wächst ein Kind auf? Das hing bislang davon ab, wo es zur Welt kam. Das ändert sich gerade, denn in vielen Teilen der Welt wächst der Wohlstand. Wir haben fünf Kinder aus fünf Kontinenten gebeten, ihren Alltag zu fotografieren. Teil 1 der Serie: Kiran, 14 aus Dehli.

Ein Kinderzimmer? Nein, so etwas gibt es im Haus von Kiran nicht. Wenn man das indische Mädchen fragt, ob es sich denn ein eigenes Zimmer wünscht, überlegt es lange und sagt: "Ich weiß nicht." Wo Kiran lebt, ist es nicht üblich, dass Kinder eigene Zimmer haben. Bislang hat das Haus, an dem ihr Vater baut, zwei kleine Räume. Zu viert ruhen sie in einem Zimmer auf dem Boden: Vater, Mutter, Kiran und ihr jüngerer Bruder. Nachts ist der Raum das Schlafzimmer - und tagsüber die Küche, was man an dem Öfchen in der Ecke sehen kann. Ach ja, und Arbeitszimmer ist er auch noch, weil in der anderen Ecke die Nähmaschine steht, an der Kirans Mutter den ganzen Tag lang sitzt.

Kiran wohnt in einem Neubauviertel am Rande der 18-Millionen-Metropole Delhi. Nur ein holpriger, staubiger Weg führt in diese Gegend, die eine gewaltige Baustelle ist. An allen Ecken wird gehämmert und gemauert, weit und breit ist kein Flecken Grün zu sehen. Manche Gassen sind so eng, dass man mit dem Auto kaum um die Ecke kommt. Kirans Vater aber weiß, wie er durch das Labyrinth steuern muss. Er besitzt ein Taxi. Tag und Nacht arbeitet er, damit die Kinder auf die private Schule gehen können.

Serie Kinderwelten: Delhi, Indien
:Fotos von Kiran, 14, Delhi

Ein Kinderzimmer gibt es nicht. Kiran steht jeden Morgen um vier Uhr auf und macht ihre Hausaufgaben. Am liebsten zeichnet sie Bilder aus der indischen Mythologie. Ein Fotostreifzug durch ihr Leben.

Kiran, die gerade 14 Jahre alt geworden ist, steht jeden Morgen um vier Uhr auf. Dann wickelt sie ihre Bettsachen zusammen und tapst hinüber ins Wohnzimmer, wo sie im Licht der Glühbirne ihre Schulsachen auspackt und ihre Aufgaben für den Tag fertig macht. Ansonsten sei es schwer, überall mitzukommen, sagt sie. Und sie ist ehrgeizig, möchte gut sein, in allen Fächern. In die Schule hat sie es zu Fuß nicht weit, um 8.05 Uhr beginnt der Unterricht und dauert bis 14 Uhr. Von 17 bis 19 Uhr lernt sie noch mal mit einer Tutorin, damit sie wirklich alles versteht, was die Lehrer jeden Tag an Stoff durcharbeiten. Viel Zeit zum Spielen bleibt da nicht. Aber wenn sie doch mal freihat, geht sie am liebsten Seilspringen mit ihren Freundinnen, vorne im Hof.

Der Vater will, dass sie so lange zur Schule geht wie möglich

Kirans Vater Suraj Nathpal erinnert sich, wie er selbst einst auf die Schule und später aufs College ging. Das war in seiner Heimat Bihar, eine ganze Tagesreise von Delhi entfernt. Er hat damals gerne studiert. Nur dass es danach keine Jobs gab. Also entschloss er sich, in die große Stadt zu ziehen. So wie es jedes Jahr Millionen Inder tun. Nicht alle stehen 25 Jahre später so da wie Herr Nathpal. Nicht alle haben die Disziplin, sich Tag für Tag durchzubeißen. Der Vater schlug sich anfangs als Gelegenheitsfahrer durch, viel Arbeit für wenig Geld. Seine Frau Naurangi Debi stockt das Familieneinkommen als Schneiderin auf. So kommen sie gerade durch mit all den Schulgebühren für die Kinder.

Kirans Leidenschaft ist das Malen. Am liebsten zeichnet sie Szenen aus der alten indischen Mythologie, in der es eine Vielzahl von Göttern gibt. Sie liebt es auch, diese Geschichten zu lesen. Dabei ist es ihr eigentlich egal, woher sie kommen. Kürzlich hat sie eine Bibel in die Finger bekommen und alles über Jesus gelesen, obwohl das eine ganz andere Geschichte ist.

Was sie einmal werden will? Künstlerin vielleicht, oder Ärztin. Oder Ingenieurin. In jedem Fall will der Vater, dass sie so lange auf die Schule geht wie möglich. Das ist in Indien nicht üblich, denn Mädchen werden meist jung verheiratet und haben keine Chance, ihren Träumen zu folgen. Aber Kiran hat Suraj Nathpal zum Vater, und der sagt: "In Delhi gibt es jetzt so viele Möglichkeiten, auch für Frauen." Die Mittelklasse wächst, und wenn Kiran die Schule bewältigt, könnte sie später auch dazu gehören. Die große Stadt ist ein hartes Pflaster, aber sie öffnet auch viele Wege. Ein wahres Labyrinth, wie Kirans Zuhause am Rande der Stadt.

© SZ vom 29.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: