La Boum:Jean-Michel weiß Bescheid

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(Foto: Steffen Mackert)

Unser Kolumnistin holt ein Buch ab. Dabei erklärt ihr endlich mal wieder jemand die Welt.

Von Nadia Pantel

In Paris sind erstaunlich viele Sachen so, wie man sie sich vorstellt. Saint-Germain-des-Prés zum Beispiel. Rive gauche, mondän und teuer, an warmen Abenden stellen die Austernbars ihre Tische aufs Trottoir. Trotzdem hat das Geld der Touristen noch nicht den Kern des Ganzen zur Seite gedrängt: die Büchermenschen. Man kann in Saint Germain also nicht nur im Café de Flore für 6,90 Euro einen Tee trinken und denken, hmhm, jaja, hier war vor mir schon Simone de Beauvoir. Hier sitzen tatsächlich noch die großen und die kleinen Verlage. Bei einem dieser Verlage musste ich vergangene Woche ein Buch abholen.

Ein Schaufenster, gleich beim Théâtre de l'Odéon, dahinter liest ein Mann einen der Romane, die er vielleicht irgendwann mal verkaufen wird. Wobei er selbst nicht unbedingt damit rechnet, er zieht sich erschrocken die Maske vor Mund und Nase, als die Ladentür aufgeht. "Bonjour, Monsieur", "Bonjour, Madame". Die Menschen in Saint Germain verstehen es, einen so anzuschauen, dass man aus Ehrfurcht immer extra höflich wird. Ich muss an den Bücherstapeln vorbei, die kleine Wendeltreppe hoch, oben wartet der freundliche Verleger, so hat er es versprochen. Es stellt sich heraus, dass der freundliche Verleger sich verspätet. Aber Jean-Michel ist schon da.

Jean-Michel ist nicht in Eile, er improvisiert einen kleinen Vortrag

Ich weiß nicht, wie Jean-Michel wirklich heißt, er leitet unser Gespräch direkt mit einer Mischung aus Flirt und Angriff ein, ich habe keine Zeit, mir seinen Namen zu merken. "Wollen Sie meine Hand schütteln? Ich bin drei Mal geimpft", sagt Jean-Michel. Was ich heute noch so mache, will er wissen. Ich sage, dass ich zum Prozess der Anschläge vom 13. November 2015 gehe. "Ah, gehören Sie zu den Angeklagten?", fragt er. Ich schaue mir sein dünner werdendes weißes Haar an, sein sauber gebügeltes Oberhemd, das er nicht ganz zugeknöpft hat. Vielleicht, denke ich, heißt du Jean-Michel.

Jean-Michel ist nicht in Eile, er improvisiert einen kleinen Vortrag. Er erklärt mir, dass eingewanderte Frauen besser in der Lage seien, sich zu integrieren, weil sie für die Familie die Einkäufe machen und deshalb schneller lernen müssen, wie ein französischer Supermarkt organisiert ist. Der Feminismus sei nicht nur schlecht, sagt Jean-Michel. "Ah bon", sage ich, na sowas. Er selber habe in seinem Leben nur einmal gekocht, aber sein Sohn wechsele jetzt sogar Windeln. Jean-Michel gibt mir dann noch Tipps, welche Bücher von Männern ich lesen könnte, um die Nöte von Frauen besser zu verstehen.

Zurück auf dem Bürgersteig denke ich darüber nach, wie manche Sachen eisern ihre Zeit überdauern. Das Kopfsteinpflaster hier zum Beispiel oder das Sendungsbewusstsein eines Jean-Michel. Zehn Minuten später ruft der nette Verleger an. "Es tut mir leid, ich habe gehört, sie haben meinen Vater getroffen." "Es war sehr interessant", sage ich, "ich brauche immer Material für meine Kolumne."

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Paris-Kolumne
:La Boum

Nadia Pantel ist SZ-Korrespondentin in Frankreich. Über ihr Leben in Paris schreibt sie jeden Freitag die Kolumne "La Boum". Hier gibt es alle bisher erschienenen Folgen zum Nachlesen.

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