Doch dass auch nur eine dieser Empfehlungen Alzheimer wirklich abwendet oder auch nur verlangsamt, ist nicht belegt. Der Mensch ist ausgeliefert. Auf diesen ungewohnt primitiven Zustand reagiert die überversorgte Gesellschaft, die sich doch sonst auf dem Weg ins hohe Alter von der Natur nichts bieten lassen muss, so primitiv sie nur kann: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
Verwirrte alte Menschen werden ins Heim abgeschoben oder der Obhut ihrer überforderten Angehörigen überlassen, die in Deutschland auf viel zu wenig Hilfe zählen können. Das ist empörend. Doch kaum einer empört sich. So war auch das Interesse mäßig, als im vergangenen Jahr mit viel Wirbel endlich Abhilfe angekündigt wurde: Nach Jahren des Stillstands, so rühmte sich das zuständige FDP-Gesundheitsministerium, wollte man dafür sorgen, die Dementen und ihre Familien endlich besserzustellen. Alles, was dann passierte, war ein lächerliches Feilschen, ein Verschieben und Verzögern. Zuetzt gab es ein paar lauwarme Versprechen. Die Erregung darüber fiel so mau aus wie die politischen Zusagen.
Über so viel Ignoranz kann sich die Politik nur freuen, von der jeder Handlungsdruck genommen wird. Warum in so einem aufreibenden, teuren Bereich Augen, Ohren und Mund öffnen, wenn es die Wähler gar nicht einfordern? Warum aufklären, integrieren und endlich die Hunderttausenden Dementen als Normalität einer alternden Gesellschaft begreifen, wenn das doch keiner verlangt? Die Angst vor dem Schreckgespenst Alzheimer ist tragisch, denn sie verhindert nicht nur das Hinschauen und das Fordern - sondern auch das Wissenwollen: So gibt es bis heute keine einheitliche Definition, was die Krankheit Alzheimer ausmacht.
Es gibt viel zu wenig Langzeitstudien, und keine systematische Sammlung aller Krankheitsfälle wie sie zum Beispiel das Krebsregister bietet. Dafür gibt es Fragen: Wer kann eigentlich genau erklären, wo die natürliche Grenze zwischen dem Verlauf von Alzheimer einerseits und dem normalen Alterungsprozess andererseits liegt? Wer kann erklären, was "geistiger Verfall" im Alter überhaupt meint? Wer kann erklären, warum sich ein Mensch wie Gunter Sachs das Leben nahm, nur weil er glaubte, an Alzheimer zu leiden?
"Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten", schrieb Sachs damals im Abschiedsbrief. Dass ein Mensch so fühlt, mag man verstehen - dass er mit seiner Krankheit und seiner Furcht in Deutschland so alleingelassen wird, hingegen nicht. Es ist menschlich, dass die Menschen so große Angst vor Alzheimer haben. Sie machen aber einen furchtbaren Fehler, wenn sie deshalb versuchen, Alzheimer zu vergessen.