Revival der deutschen Küche:Rückkehr des Rustikalen

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Kohlroulade und Ochsenzunge, Eisbein, Aal und Grüne Soße: Was in der Spitzengastronomie lange nicht auf den Teller kam, erlebt ein Comeback.

Robert Lücke

Als Dieter Müller Anfang der neunziger Jahre einen Schweinsfuß mit Gänsestopfleber füllte und diesen auf ein Bett aus schwarzen, sauren Linsen legte, konnte der Drei-Sterne-Koch aus Bergisch Gladbach noch nicht ahnen, dass er damit eine Revolution auslösen würde. Linsen in der feinen Küche?

Nein, das war unvorstellbar. Heute ist das Deftige, Rustikale, Erdige, Normale, Verständliche der große Trend in der Spitzengastronomie, und langsam setzt er sich bis in die Hobbyküchen durch.

Mal ehrlich, Pichelsteiner, Leipziger Allerlei, Himmel und Erde, jaja, das haben wir alle schon mal gehört. Aber wer hat es denn schon mal gegessen? Das dürfte daran liegen, dass es diese urdeutschen Spezialitäten entweder jahrelang nirgendwo mehr gab oder sie so miserabel zubereitet wurden, dass jeder versuchte, die Erinnerung daran tunlichst zu vermeiden. Auch in der heimischen Küche geriet die rustikale Kost nahezu in Vergessenheit. Früher gab die Mutter ihre Rezepte und ihre Tricks an die Tochter weiter, manche sogar in schriftlicher Form, niedergeschrieben in ein kleines Büchlein, und die Tochter sagte dann wiederum ihrem eigenen Nachwuchs, wie man gut kocht - im besten Fall.

Das scheint nun schon seit längerem nicht mehr zu passieren. Und welche junge Frau kocht schon gerne und bewusst wie Oma? Aber der Wind hat sich gedreht, was unter anderem auf den Trend zur regionalen Küche zurückzuführen ist; traditionelle deutsche Gerichte finden den Weg wieder auf die Speisekarten. So beginnt selbst die Pizza-Pasta-Generation damit, Kohlrouladen für sich zu entdecken.

In der Spitzengastronomie sind Omas Klassiker bereits angekommen. Des ewigen modischen Chichis überdrüssig, weil alle unsinnigen Schäumchen gelöffelt und alle Schnapsgläser voller Airs getrunken sind, entwickeln kluge Sterneköche wie Dieter Müller, der Stuttgarter Vincent Klink und der nicht näher verwandte Alfred Klink vom Freiburger Colombi ihre eigene Form der deutschen Küche. Dazu gehören die deftigen Spezialitäten, die vor zwei Generationen noch jeder kannte.

Vincent Klink sieht schon aus wie ein Koch: dicker Bauch, runder Kopf, ein echter Genießer. Er macht eine Sülze vom Schweinskopf, Pasteten aus Hasenfleisch, es gibt in seinem Lokal Kuttelwurst und Verlorenes Ei, Ochsenzunge und -maul sowie gebratene Haxen. Für Klink ist das Ganze eine echte Herzenssache. "Das Interesse an deutschen Spezialitäten ist da, und es wächst", sagt er.

"Nur leider machen viele Kollegen da noch nicht mit." Die Regionalküche stamme ja aus einer Zeit, als die Menschen noch viel ärmer waren, und diese Gerichte mit guten und deswegen teueren Produkten anzubieten, das müsse man sich erst mal trauen. Der Ruf der deutschen Küche sei überdies durch Billigfraß und Tütensaucen "so stark beschädigt, dass viele Köche es nicht wagen, deutsche Gerichte auf die Karte zu setzen".

Lesen Sie auf der nächsten Seite wie es das Jägerschnitzel in die Sterneküche geschafft hat und ein Franzose den Deutschen Selbstbewusstsein beibringt.

Sein Lokal allerdings hat Erfolg; Klink ist mit seinem Konzept ein gefragter Fernsehkoch. Gut läuft auch das "Restaurant Alte Schenke" von Emil Sieckendiek in Versmold in Ostwestfalen, wo Eisbeinsülze, Heringstipp und Kohlrouladen auf der Karte stehen.

Walter Stemberg, mit 16 Punkten im Gault Millau dekoriert, der in seinem Lokal in Velbert-Neviges deutsche Kochtraditionen hochhält, sagt sogar: "Wenn wir Dicke Bohnen, Rippchen, Rouladen oder Königsberger Klopse anbieten, rennen uns die Leute die Bude ein. Offenbar sind es viele leid, im Restaurant immer nur piekfein, crossover oder molekular zu essen."

Offensichtlich wurde das auch Zeit, denn mit dem Kochbuch-Wälzer "Deutsche Küche" warb ausgerechnet ein Franzose für mehr Selbstbewusstsein in deutschen Küchen. Jean-Claude Bourgueil vom Düsseldorfer "Schiffchen" beschreibt darin die Essenz des guten, deftigen deutschen Geschmacks, von Aal bis Zwieback. In seinem Bistro macht er Sauerbraten vom Filet, Himmel und Erde und Eintöpfe.

"Die deutsche deftige Küche ist nicht schlechter als die einfache französische", sagt Bourgueil, "man muss sie nur gut machen. Und das ist leider selten der Fall". Mit anderen Worten: Wo Stümper mit Saucenbindern und Tütenaufreißer mit Fertigprodukten hantieren, kann keine gute deftige Spezialität entstehen.

Entsprechend skeptisch reagierten manche vorgebliche Szenekenner, als Sven Elverfeld, seit kurzem einer von Deutschlands neun besten Köchen mit drei Michelin-Sternen, eine "Seezunge Finkenwerder Art" auf die Speisekarte seines Wolfsburger "Aqua" setzte. Normalerweise ist "Finkenwerder Art" eine gebratene Scholle mit krossen Speckwürfeln drauf. Und das in einem Drei-Sterne-Restaurant?

Aber Elverfeld machte daraus eine feine Variante: Als Garnitur nahm er Speck, Champignons, geröstetes Brot, Zwiebel und Petersilie. Statt der üblicherweise in Norddeutschland verwendeten Scholle nahm er eine Seezunge mit einem Mindestgewicht von 1,2 Kilo, um ein möglichst dickes Fischfilet zu erhalten. "Die Zutaten, die bei der klassischen Zubereitung als Pfannengericht vereint werden, habe ich in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und wieder zusammengeführt - das macht am Ende das besondere Aroma aus", sagt Elverfeld. Trotz bekannter Namensgebung seien seine Gäste schon rein optisch überrascht gewesen, "und der Geschmack sollte ein freudiges Déjà-vu-Erlebnis sein".

Jägerschnitzel vom Sternekoch

Auch Jägerschnitzel gibt es bei ihm, statt eines in Billigsauce mit Trockenpilzen ertränkten panierten Schweineschnitzels schneidet Elverfeld dünne Scheiben vom Biokalbsrücken. Die Panade gibt er separat und hauchdünn dazu, die Pilze werden roh und gegart als Carpaccio serviert, und eine dunkle Kalbsjus ersetzt die Fertigsauce anderer Köche.

Dazu reicht der Drei-Sterne-Koch handgemachte Pommes mit Malzessig und Karotten. Das Steak "Holsteiner Art" serviert er mit confierten Kartoffeln, grünen Bohnen und Wachtel-Spiegelei, und seine Aalleber "Berliner Art" oder der Apfelstrudel sehen zwar etwas anders aus als im Gasthof, "schmecken aber wie eine Erinnerung an früher", sagt Elverfeld.

Als Jungkoch langweilte er sich immer, wenn er Omas Klassiker lernen sollte. "Heute bin ich ganz heiß drauf. Die Gäste finden es toll, sie bestellen das sehr gerne." Mit moderner Technik und neuartigen Zubereitungen solche Gerichte zu verfeinern, sei äußerst reizvoll. Ob Sauerfleisch vom Eisbein mit Röstkartoffeln oder Frankfurter Grüne Sauce zum Tafelspitz, "die Klassiker sind besser als viele teure Luxusprodukte", sagt Elverfeld. "Hummer steht bei mir seit mindestens drei Jahren nicht mehr auf der Karte.

Da stellt sich die Frage, warum es ihm nicht noch mehr Kollegen nachmachen. Vincent Klink hat eine Vermutung: Es sei nicht nur der fehlende Mut. "Auch wirtschaftlich ist es schwierig", sagt er. Eine gute Rinderroulade sei derart arbeitsintensiv, da nehme mancher Sternekoch lieber ein Kalbsmedaillon mit einer Scheibe Gänseleber drauf. "Das ist einfacher, geht schneller, und am Ende verdient man mehr dran", sagt Klink. "Außerdem muss man dafür richtig kochen können, nicht nur anrichten und arrangieren."

Das Problem kennen auch die Hobbyköche. Schließlich ermitteln Marktforscher seit Jahren immer wieder, dass in deutschen Haushalten grundsätzlich immer seltener und wenn, dann schneller und kürzer gekocht wird. Kein Wunder, dass kaum ein Hobbykoch noch einen anständigen Stielmuseintopf, Armen Ritter oder eine gefüllte Kohlroulade hinbekommt. Hier dreht sich das Rad deswegen langsamer als in der Gastronomie, aber es dreht sich.

Auf einschlägigen Internet-Seiten wie "chefkoch.de" wird bereits diskutiert, wie man denn nun den besten Stollen, Grünkohl oder Sauerbraten hinbekommt - um endlich wieder das zu können, was für frühere Generationen eine Selbstverständlichkeit war.

© SZ vom 20.3.2010/sewo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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