Rape Culture:"Wir entmündigen vergewaltigte Frauen"

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Teilnehmerinnen eines 'Schlampenmarsches' durch die Münchner Innenstadt demonstrieren gegen sexuelle Gewalt (Foto: Florian Peljak)

Frauen sind Opfer, Männer Triebtäter: Wenn es um Vergewaltigung geht, kommen überholte Geschlechterbilder hoch, wird die Debatte undifferenziert. Die Autorin Mithu Sanyal ergründet, warum.

Interview von Tanja Mokosch

Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Melanie Sanyal sucht in ihrem gerade erschienenen Buch "Vergewaltigung - Aspekte eines Verbrechens" nach Gründen, warum wir über Vergewaltigung so emotional und undifferenziert sprechen wie bei keinem anderen Verbrechen. Wie kann man Vergewaltigungen verhindern? Diese Frage steht im Mittelpunkt ihres Buches.

SZ.de: Frau Sanyal, in Ihrem neuen Buch kritisieren Sie, wie wir mit weiblichen Opfern von Vergewaltigung umgehen. Warum?

Mithu Sanyal: Wir entmündigen die Frauen zu sehr. Sie müssen Opfer sein und für den Rest ihres Lebens Opfer bleiben. Das hat sich in den siebziger Jahren so entwickelt, um zu beweisen, dass das Thema Vergewaltigung ernst zu nehmen ist. Die Botschaft ist: Es gibt keine Rettung. Therapeuten wissen, dass das nicht der Fall ist. Aber die Gesellschaft und das Umfeld der Opfer wissen das oft nicht.

Ein gutes Beispiel ist vielleicht der Fall Natascha Kampusch. Warum hat ihre reflektierte Art, über das zu sprechen, was ihr widerfahren ist, die Öffentlichkeit so verstört?

Das geht gegen alles, was wir gelernt haben. Es erscheint unfassbar, dass jemand mit Vergewaltigung über Jahre hinweg so abgeklärt umgehen kann. Deshalb glauben wir, dass da etwas nicht stimmen kann. Bei Kampusch hat die Klatschpresse über eine Liebesbeziehung spekuliert. Also Entschuldigung, sie war ein zehnjähriges Mädchen. Selbst wenn sich da etwas entwickelt haben sollte, war es sicher alles andere als freiwillig. Allerdings ist alles nicht schwarz-weiß. Wir können uns Vergewaltiger nur als absolute Monster vorstellen. Dass Natascha Kampusch in ihrem Entführer auch menschliche Züge erkannt hat, lehnen wir ab.

Wie müssen wir dann mit Opfern umgehen?

Therapeutinnen sagen: "Es ist wichtig, das Ereignis selbst zu verarbeiten, es ist aber auch wichtig, wie es danach weitergeht." Dazu gehört auch, wie mein Umfeld mich wahrnimmt. Bin ich jetzt für immer das Vergewaltigungsopfer? Ich glaube, wir müssen anfangen, die Geschichten aller Betroffenen zu akzeptieren: jene, die ausweglos klingen genauso wie die Fälle, in denen das Erlebnis gut überwunden wurde, außerdem alles dazwischen.

Natascha Kampusch
:"Die Gesellschaft will Frauen so sehen, wie der Entführer mich sah"

Und zwar als unterlegen und weniger intelligent. Zehn Jahre nach ihrer Befreiung spricht Natascha Kampusch über Arroganz als Waffe - und warum sie sich heute gestattet, Menschen zurück zu hassen.

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Sie kritisieren, dass auch über das Geschlecht der Opfer zu undifferenziert gesprochen wird.

Wenn wir über Vergewaltigung reden, tauchen alle Geschlechterstereotype wieder auf, bei denen wir uns sonst auf die Zunge beißen würden: ausgelieferte Frauen als Opfer und Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Die Vergewaltigung ist die letzte Bastion, der wahre Geschlechterunterschied. Das finde ich sehr entmutigend. Es gibt Männer, die vergewaltigen. Es gibt Männer, die vergewaltigt werden. In Deutschland wurde 1997 die Vergewaltigung in der Ehe per Gesetz als Straftat anerkannt. Das wurde in der Öffentlichkeit akzeptiert und befürwortet. In derselben Reform wurden aber auch Täter und Opfer geschlechtsneutral formuliert. Darüber wird kaum gesprochen. Männer und auch Transgender kommen in der Debatte als Opfer nicht vor. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele Männer vergewaltigt wurden. Sie wurden in der Vergangenheit nie gefragt. Als Forscher damit angefangen haben, haben überraschend viele angegeben, sexuelle Gewalt erlebt zu haben.

Das lässt sich mit unserem Geschlechterbild nur schwer vereinbaren.

Es galt lange als natürliche Definition von Sexualität, dass der galante Mann die zunächst widerständige Frau überwältigen muss. Eine zivilisierte Frau konnte keinen Sex wollen. So wird es heute noch in Beziehungsratgebern kolportiert. Da steht dann: "Wenn Sie einen Mann kennenlernen, rufen Sie ihn nicht an. Warten Sie, bis er sich meldet. Sonst denkt er, Sie sind leicht zu haben und verliert das Interesse." Das ist tragisch. Wir lernen eine Sexualkultur, die alte Muster wiederholt. Der Mann muss den ersten Schritt machen, aber genau erkennen, was die Frau will und was nicht. Daran scheitern genau die reflektieren, empathischen Männer und denken sich vielleicht: Dann mache ich besser gar nichts.

Was bedeutet dieses Bild vom Mann als triebgesteuertem "Überwältiger" für Frauen?

Wir leben mit dem Gefühl einer potenziell ständig lauernden Bedrohung. Mir wurde als Mädchen immer gesagt: Pass auf! Und ich wusste gar nicht, wie ich das machen soll. Das hat mich nicht - in einem positiven Sinn - vorsichtig gemacht, sondern nur unsicher. Das wirkt bis heute nach. So beschreibt es ja zum Beispiel auch Margarete Stokowski in ihrem neuen Buch, obwohl sie 15 Jahre jünger ist als ich.

Früher war es der Unbekannte, der nachts mit einem Messer aus dem Gebüsch springt und eine Frau überfällt. Seit der Silvesternacht Köln ist es der Mythos vom "nordafrikanisch aussehenden Mann", der nach Deutschland kommt, um "unsere" Frauen zu vergewaltigen. Die Debatte strotzt vor Vorurteilen und Annahmen, die mit den meisten echten Fälle nichts zu tun haben. Warum?

Weil wir bei diesem schlimmen Verbrechen nicht glaube können, dass Menschen aus unserem Umfeld dazu im Stande sind. Deutsche Vergewaltiger, das sind individuell Verrückte. Sind die Vergewaltiger jedoch Fremde, dann sehen wir es als kulturelle Handlung, als charakteristisch für diese Gruppe. Es ist aber statistisch nicht belegbar, dass Ausländer oder Flüchtlinge mehr Verbrechen begehen als gebürtige Deutsche - ausgenommen Delikte, bei denen es um unerlaubten Aufenthaltsstatus geht. Wir müssen stärker hinterfragen, warum wir die Dinge so wahrnehmen, wie wir es tun.

Seit Kurzem gilt nach deutschem Recht der feministische Grundsatz "Nein heißt Nein". Eine Errungenschaft?

Juristisch finde ich das richtig und sinnvoll. Das Problem am Grundsatz liegt eher abseits der Rechtsprechung: Mädchen lernen in der Schule Nein zu sagen und Jungs lernen, ein Nein zu akzeptieren. Wir sollten alle beides lernen. Und natürlich zuerst einmal überhaupt herausfinden, was wir überhaupt wollen und wie wir das kommunizieren.

Welche Rolle spielt das Urteil im Fall Gina-Lisa Lohfink in der Debatte?

Da heißt es jetzt im Nachhinein, es wurde bewiesen, dass sie gelogen hat. Aber bewiesen ist gar nichts. Es musste eben jemand eine Entscheidung treffen, so ist das in Prozessen. Richter sind keine Hellseher, sie versuchen herauszufinden, was nachweisbar ist. Ein Urteil sagt nichts über Wahrheit und Unwahrheit aus.

"Untenrum frei" von Margarete Stokowski
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Befürworten Sie eine Konsensregelung, wie sie etwa in Großbritannien proklamiert wird?

Dort gilt der Slogan " Ja heißt Ja". Das ist emotional erst einmal schön als Botschaft. Da sich aber die Geschlechtervorstellungen nicht verändert haben, heißt das in der Praxis in England: Wenn zwei Betrunkene miteinander Sex haben und es danach zu einer Anzeige kommt, kann der Mann verurteilt werden, weil er immer die Kontrolle über seine Sexualität haben und erkennen müsse, dass sie keine "informierte Einwilligung" geben konnte. Das finde ich schwierig.

Wie können wir Vergewaltigungen dann verhindern?

Die feministische Forderung ist: Man soll nicht Menschen beibringen, nicht vergewaltigt zu werden, man soll Menschen beibringen nicht zu vergewaltigen. Wir alle sollten also lernen, besser zu kommunizieren und nicht einfach - so wie es mir eingeimpft wurde - einzufrieren und den Kontakt abzubrechen, wenn eine Grenze überschritten wurde. Wenn wir mit richtiger Sexualbildung anfangen würden, könnte sich viel ändern. Das müssen Experten übernehmen, die in die Schulen gehen, nicht immer die armen Lehrer, sondern zum Beispiel Konsens-Trainer, es gibt für sowas ja ganze Ausbildungen.

Im Buch beschreiben Sie auch kulturelle Faktoren, die Vergewaltigung fördern können.

Es gibt Studien, die das belegen. Hierarchische Strukturen gehören dazu, und ein Umfeld, in dem Empathie nicht so wichtig erscheint - wie zum Beispiel beim Militär. Alles, was unsere Gesellschaft egalitärer macht, ist ein Schritt zur Vergewaltigungsprävention.

Das klingt utopisch.

Was ich damit sagen will: Vergewaltigung kann nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgeschnitten werden. Es ist alles miteinander verbunden.

Der Begriff "Rape Culture", den einige Feministinnen häufig verwenden, hat also seine Berechtigung?

Ja, es gibt Faktoren, die auch in Deutschland Vergewaltigung fördern. Aber im Vergleich zu anderen Ländern stehen wir gar nicht so schlecht da. Wir haben keine absoluten Zahlen, aber es haben sich schon Dinge verbessert - zum Beispiel im Umgang von Gerichten oder der Polizei mit den Opfern. Außer in Fällen wie Gina-Lisa Lohfinks. Die Veränderung des Vergewaltigungsparagraphen, dass jetzt Nein heißt Nein gilt, ist ein ganz großer Schritt. Das heißt nicht, dass alles prima geworden ist. Aber es bewegt sich was.

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