Sexualstrafrecht:Wir müssen erst lernen, über sexuelle Gewalt zu sprechen

Bundestag To Vote On New Sex Offenses Law

Die Debatte um sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe ist geprägt von Stereotypen und Vorurteilen.

(Foto: Getty Images)

Die Verunsicherung ist riesig. Das zeigen die Übergriffe von Köln, der Fall Gina-Lisa Lohfink und Atze Schröders missglückter Peniswitz. Auf der Suche nach Klarheit in einer Debatte voller Fallstricke.

Von Julian Dörr

Die Schwierigkeiten beginnen schon bei den beteiligten Personen. Mit der Strafgesetzänderung 1997 wurde Vergewaltigung auch in der Ehe strafbar. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass damals Opfer und Täter erstmals geschlechtsneutral formuliert wurden. Zuvor konnten nur Männer Vergewaltiger sein. Und nur Frauen Vergewaltigte. Die Frau, das ewige Opfer. Ein historisches Problem. Während die weibliche Ehre im Körper verordnet wurde, wurde die Ehre des Mannes im öffentlichen Raum, im Beruf oder auf dem Schlachtfeld verhandelt, sagt die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu Sanyal.

Die Silvesternacht von Köln, der Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink, die Reform des Sexualstrafrechts. Sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe, darüber wird gerade überall diskutiert. Aber halt, stimmt das wirklich? Wir reden, ja, aber debattieren wir auch? In allen Medien - unterscheidbar durch den Empörungsgrad - stehen sich die Meinungen der Befürworter und Gegner der Gesetzesänderung gegenüber. Eine zielführende Debatte über sexuelle Gewalt ist das jedoch nicht. Denn dazu fehlt uns das Bewusstsein für die Dinge, über die wir sprechen. Viel zu oft verfallen wir in Stereotype, lassen uns von Vorurteilen und Mutmaßungen einlullen. Eine unaufgeregte und vor allem differenzierte Sicht auf die Welt wird versperrt.

Unsere Gesellschaft ist auf der Suche nach einer Haltung. Zeit, zu reflektieren und sich die Frage zu stellen: Wie sprechen wir eigentlich über sexuelle Gewalt? Und welche Folgen hat unser Verhalten? Wenn wir von sexueller Gewalt reden, lassen wir meist Vorsicht walten. Und dennoch: Pauschalisierungen und vorgefertigte Einschätzungen rutschen aus unbedachten Äußerungen direkt in den gesellschaftlichen Mainstream. Und festigen so ein politisches Klima: Jungen arabischen Männern mangelt es an Respekt vor Frauen. Und Gina-Lisa, das blonde Pornosternchen mit den gemachten Brüsten, ist die nicht auch ein bisschen selbst Schuld? Die Ereignisse auf der Domplatte in Köln haben nichts zu tun mit der Causa Lohfink - und doch hängen sie zusammen. Weil sich an ihnen und ihren Nachwirkungen zeigt, wie unsicher unsere Gesellschaft im Umgang mit sexueller Gewalt ist.

Der virile Mann überwältigt die passive Frau

Das hat auch mit Diskursen zu tun, die "mitschwingen, ohne dass wir es merken", wie es die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal formuliert. Motive wie das von der reinen, jungfräulichen und unbeschmutzten Frau. Oder das religiöse Konzept der Keuschheit.

Ehrenhafte Frauen haben Sex nur in einer Beziehung. Und unehrenhafte Frauen, nun ja, die haben sexuelle Übergriffe durch ihre Promiskuität ja auch herausgefordert. Slut shaming heißt das auf Neudeutsch. Wenn wir von sexueller Gewalt reden, dann reden wir also von Geschlechterrollen. "Vergewaltigung ist nicht nur das am meisten gegenderte Verbrechen, sondern auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert", sagt Mithu Sanyal. Soll heißen: Indem wir in stereotype Geschlechterrollen verfallen, wenn wir über Vergewaltigung sprechen, zementieren wir eben jene Machtverhältnisse und Strukturen, die zu Vergewaltigungen führen. Der Mann als Täter, die Frau als Opfer. Sicherlich, sexuelle Gewalt geht zumeist von Männern aus. Aber auch andere Männer, Kinder oder Transgender können Opfer werden. Das heißt natürlich nicht, dass Vergewaltigung ein geschlechtsneutrales Verbrechen ist. Die Art und Weise, wie wir über Vergewaltigung sprechen, hat aber laut Mithu Sanyal auch Auswirkungen darauf, wie sich die Geschlechter zueinander verhalten.

Der virile Mann überwältigt die passive Frau - eine Konstruktion von Sexualität aus längst vergangenen Zeiten. Oder nicht? "Von dieser Vorstellung haben wir uns gar nicht so weit entfernt", sagt Sanyal, die im Sommer ein Buch über den gesellschaftlichen Umgang mit Vergewaltigung veröffentlicht. Man müsse sich nur Beziehungsratgeber anschauen: "Ein Mann will erobern, rufen Sie ihn nach einem Date bloß nicht an!" Doch während es in anderen Bereichen regelmäßig zum Aufschrei kommt, sieht es beim Thema sexuelle Gewalt ganz anders aus: "In keinem anderen Themenkomplex akzeptieren wir noch solche Geschlechterstereotype. Männer wollen alles penetrieren. Und Frauen wollen nur mit Champagner und Schokolade überredet werden, bis sie irgendwann ja sagen. Dabei ist das ja in unserer gelebten Sexualität gar nicht der Fall."

Doch wie können wir uns von diesen Vorstellungen lösen? Durch eine Gesetzesänderung? Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal sieht in der Sexualstrafrechtsreform einen großen Schritt zur sexuellen Selbstbestimmung. Sie befürwortet die Gesetzesänderung, denn sie schaffe eine Basis, auf der man sich unterhalten könne. Dazu gehöre auch ein Blick in die Grauzonen. Wann ist ein Nein wirklich ein Nein? Andererseits, das sagt Sanyal auch, müsse die Gesetzesänderung mit einer gesellschaftlichen Debatte verknüpft werden. Über Geschlechterbilder. Aber auch über Rassismus.

Darf man Witze über Vergewaltigungen machen?

Wenn sexuelle Gewalt und das vermeintlich Fremde zusammenprallen, entsteht gesellschaftlicher Sprengstoff. Nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht schwangen sich Rechte zu Feministen auf und verkündeten: Multikulturalismus ist schlecht für die Frau. Der junge arabischstämmige Mann wurde zum Feindbild. "Dabei wissen wir nicht viel über Sexualität in der arabischen Welt", sagt Mithu Sanyal, "was auch immer die arabische Welt sein soll. Auch da gibt es Experten, aber die wurden in der Debatte nur selten herangezogen."

Anstatt pauschal in die Narrative des männlichen Täters und des frauenfeindlichen Muslim zu verfallen, sollte nach den individuellen Ursachen geforscht werden, die zu dieser Straftat führen. Wo Wissen fehlt, gedeiht die Angst.

Wer an fremden Erfahrungen teilhat, der erweitert seinen Horizont

Aber wo könnte diese Debatte entstehen, die uns von unseren Vorurteilen und unserem Unwissen befreit? Die Antwort lautet, wie so oft: im Netz. Das mag zunächst verwundern. Ist es nicht das Netz, wo sexuelle Gewalt in ihrer rohsten Form verhandelt wird? Als die Sportreporterin Elisabeth Neumann kürzlich als erste Frau ein EM-Vorrundenspiel kommentierte, spülte der Shitstorm auch Vergewaltigungsdrohungen an.

Hass-Kommentare, Beschimpfungen, Gewaltandrohung. Der Ton ist rau, zuweilen bösartig und gefährlich. Und dennoch kann uns der Diskurs im Netz helfen, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Einerseits, indem er all den sexistischen und rassistischen Mief unter den Stammtischen hervorzerrt und in den öffentlichen Raum verfrachtet. Andererseits durch offene Diskussionen: Wenn Frauen ihre Erlebnisse unter Hashtags wie #imzugpassiert, #nowomanever oder #whyIsaidnothing teilen, gibt es Aufmerksamkeit und Solidarität. Und wer an fremden Erfahrungen teilhat, der erweitert seinen Horizont.

Bleibt noch die Sache mit den Witzen. Der Geflügelschlachter Wiesenhof hat kürzlich einen Bratwurst-Werbespot zurückgezogen, in dem sich Comedian Atze Schröder wenig subtil über Penislängen auslässt. "Danach müssen Gina und Lisa erst mal in die Traumatherapie" - eine misslungene Anspielung auf potenzielle Vergewaltigungsopfer wie Gina-Lisa Lohfink. Inzwischen hat sich der Komiker für diesen Clip entschuldigt, der dennoch als eine der geschmacklosesten Randnotizen der vergangenen Wochen in Erinnerung bleiben wird. Atze Schröder und Wiesenhof haben mit ihrem dummen Witz offensichtlich eine Grenze überschritten. Es sind verharmlosende Äußerungen wie diese, die jenes gesellschaftliche Klima schaffen, das man als rape culture bezeichnet, als Vergewaltigungskultur. Eine jovial-männliche Kultur, die sexuelle Übergriffe als Kavaliersdelikte begreift.

Darf man unter keinen Umständen rape jokes, also Witze über Vergewaltigung machen? Geht es zu weit, wenn Jan Böhmermann und Olli Schulz in ihrem Podcast über K.-o.-Tropfen witzeln? Nein, ganz gewiss nicht. "In hierarchischen Kontexten verbieten sich solche Vergewaltigungswitze, weil sie da einer anderen Gruppe Empfindsamkeiten verbieten", sagt Mithu Sanyal. Im richtigen Kontext aber kann uns ein Witz, so heikel sein Gegenstand auch sein mag, mit unseren eigenen Vorurteilen und Mutmaßungen konfrontieren - und so die Debatte vorantreiben. So tut es auch die amerikanische Performance-Künstlerin und Stand-up-Komikerin Adrienne Truscott.

In ihrer Show "Asking for It" reiht sie eine Stunde lang rape joke an rape joke. Dabei trägt sie eine blonde Perücke, eine Jeans-Jacke, High-Heels - und sonst nichts. Ein Outfit, mit dem sie es darauf anlegt, vergewaltigt zu werden - she is asking for it. Ein intelligentes Spiel mit den Prämissen der rape culture. Und eine feministische Aneignung des Vergewaltigungswitzes. Es ist nahezu unerträglich, der halbnackten Truscott zuzuschauen. Man schämt sich, man fühlt sich konfrontiert, plötzlich ist man ganz weit draußen, jenseits der Komfortzone. Und dann ist da eine neue Tür im Kopf, die gerade aufgestoßen wird. Die Debatte um sexuelle Gewalt, sie braucht noch viele solcher Türen.

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