"Untenrum frei" von Margarete Stokowski:Ding, dong, hier geht's ums Vögeln

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Ernsthaft? Noch mehr reden über Sex? Eine Frage, die Margarete Stokowski klar mit Ja beantwortet. (Foto: Esra Rotthoff)

Sexuelle Freiheit ist längst erreicht? Das dachte auch Margarete Stokowski - bis sie sexuelle Gewalt erlebte und nicht darüber sprechen konnte. In ihrem Buch macht sich die Autorin frei.

Buchkritik von Barbara Vorsamer

Als Vierjährige stürzt Margarete Stokowski mit dem Fahrrad und knallt sich den Lenker zwischen die Beine. Doch wie soll ein Mädchen sagen, dass es sich an der, äh, Dings wehgetan hat? An der Mumu? Muschi? Also, da unten halt? Margarete sagt nichts.

Man kann es sich kaum vorstellen, dass die Spiegel-Online-Kolumnistin jemals sprachlos gewesen sein soll. Ausgerechnet sie, die jede Woche beißende Worte für das findet, was so alles falsch läuft zwischen Oben und Unten. Dass wir untenrum nicht frei sein können, solange wir es obenrum nicht sind, ist Stokowskis zentrale These. Das Untenrum ist, klar, der Sex, der Überbau ist unser Verständnis von uns selbst und den anderen.

An seinen guten Stellen ist ihr Buch die Autobiografie einer klugen, frechen jungen Frau, die zunächst nicht hinterfragt, warum ihr Bruder einen Gameboy und ein eigenes Zimmer hat und sie nicht. "Eine verfickte Disneyprinzessin" will sie sein, doch leider sieht sie aus wie Mireille Mathieu in Latzhosen. Später liest sie Bravo, versucht, mit Hilfe zahlreicher Drogerieartikel ihren tropfenden und wachsenden Pubertätskörper unter Kontrolle zu halten und lernt im Firmunterricht, dass Misch-Ehen zwischen Protestanten und Katholiken nicht gut gehen können. Eines Nachmittags vergewaltigt sie der Leiter ihrer Schach-AG in seinem Auto.

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"Mir war damals nicht klar, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt", sagt sie darüber am Telefon. "Das Einzige, was mir klar war, war, dass ich darüber nicht sprechen darf." Der Jugendlichen fehlen für sexuelle Gewalt genauso die Worte wie dem kleinen Mädchen für ihre Vagina. Anstatt zu sprechen, beginnt sie zu ritzen und zu hungern.

Nun spricht und schreibt sie und zwar auch über dieses Erlebnis, um sich - wie sie es nennt - zu "entopfern". Denn ein Opfer sei Objekt, liege ganz in der Macht der anderen - des Täters oder der Gesellschaft. Indem Betroffene ihre Geschichte erzählen, machen sie sich selbst wieder zu Handelnden, so der Gedanke dahinter.

Frauen - Subjekt oder Objekt?

Wer macht etwas? Und mit wem wird etwas gemacht? Eine zentrale Frage ihres Buches, für die Stokowski Simone de Beauvoirs berühmten Satz zitiert: Heißt es "Man wird nicht als Frau geboren. Man wird dazu gemacht"? Oder müsse man das französische Original mit "Man wird nicht als Frau geboren. Man wird es" übersetzen? Was ist sie denn nun, die Frau: Subjekt oder Objekt?

Wie unklar das ist, zeigt Stokowski am Beispiel von Schönheitsidealen. Die kritisiert sie seitenlang aufs Heftigste, beobachtet aber gleichzeitig, dass viele Frauen, die High Heels tragen und stundenlang Nagellack auftragen, sich dabei sehr selbstbestimmt fühlen. Die Autorin kennt es von sich selbst. Wenn sie sich fragt, warum sie ihre Achselhaare rasiert, antwortet sie: "Weil es mir gefällt" oder "Weil alle anderen es auch tun".

In ihrem Buch findet sie eine weitere Antwort: "Weil diese Gesellschaft den weiblichen Körper kontrolliert und zwar viel stärker als den männlichen, und weil ich die Ideale und Zwänge schon so sehr internalisiert habe, dass es mir nicht mal mehr auffällt, dass sie von außen kommen." Das Komplizierte daran sei, dass alle drei Aussagen wahr sind und das auch noch gleichzeitig.

Stokowski argumentiert, dass sich Frauen im Kampf gegen den eigenen Körper als Handelnde fühlen. Sie würden ihre Freiheit nutzen, um sich selbst zu verändern - meistens entsprechend der Norm, manchmal auch genau anders, aber selten richtig frei. Und in all dem Tun würden sie nicht merken, dass Akzeptanz des Körpers in seiner ursprünglichen Form auch eine Möglichkeit wäre.

Wenn die Autorin nicht mit eigenem Erleben argumentieren kann, zitiert sie alles von Georg Friedrich Hegel über Immanuel Kant bis Theodor Adorno, außerdem Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer und Shulamith Firestone. Diese Frau hat Philosophie studiert und ganze Bibliotheken gelesen, das merkt man, und doch sind es die schwächeren Abschnitte des Buches, wenn sie anhand von zeitgenössischen Denkern und Studien darlegt, dass die 68er uns gar nicht sexuell befreit haben. Die entsprechenden Stellen lesen sich gelegentlich wie eine Seminararbeit - die einer brillianten Studentin, aber dennoch.

Aber es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu zitieren: Sie ist Jahrgang 1986, sie war nicht mit dabei. Und um eine gesellschaftliche Debatte über sexuelle Freiheit zu fordern, muss sie erst beweisen, dass diese noch gar nicht stattgefunden hat.

So mancher mag jetzt denken: Ernsthaft? Noch mehr Sex? Noch mehr reden über Sex? Ist es nicht langsam mal gut mit der sexuellen Freiheit? Sex ist überall, nackte Brüste hängen an jeder Bushaltestelle - wäre es nicht an der Zeit, endlich wieder die Bettdecke drüber zu ziehen und jeden sein Ding machen zu lassen?

Das Patriarchat hat uns zum Shoppen geschickt

Eine rhetorische Frage, die die Autorin vorhersehbar mit Nein beantwortet. Nicht Sex ist überall, findet Stokowski, sondern Abbildungen von nackten Frauen. Frauenkörper seien aber so sehr mit Sex verbunden, dass die bloße Abbildung von Brüsten reiche, um zu zeigen: "Ding, dong, hier wird gevögelt!" Und das stimmt dann nicht mal. Stattdessen werden Autos verkauft oder Strumpfhosen. (Oder Zeitschriften: Margarete Stokowski füllte einmal eine komplette Kolumne mit der Aufzählung von Magazintiteln, die mit nackten Frauen bebildert waren. Salz und Diabetes waren dabei nicht die absurdesten Themen.)

Das Plakative, gerne auch Vulgäre, ist typisch Stokowski, womit sie das Spiel, Dinge über Sex zu verkaufen, natürlich mitspielt. Sie verkauft ihre Argumente und damit ihr Buch, indem sie übers Ficken und Vögeln schreibt und spricht dabei ihr imaginäres Gegenüber auch mal mit "Ey, Alter!" an.

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Sie stellt fest: "Wir haben die Fesseln des Patriarchats nicht gesprengt, sondern sind mit ihnen shoppen gegangen." Die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus mit schuld an der fortwährenden Ungleichheit der Geschlechter ist, haben auch andere schon gezogen, Laurie Penny zum Beispiel. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis irgendein Feuilleton Stokowski als "die deutsche Laurie Penny" feiert. Beide sind 30 Jahre alt, beide sind als Kolumnistinnen erfolgreich und beide halten Anarchie für die Lösung der Gleichberechtigungsproblematik.

Ebenfalls gemeinsam haben sie, dass es nach dieser forschen Forderung dünn wird. Anarchie, die Abwesenheit von Herrschaft, soll eine gerechtere Gesellschaft schaffen - aber wie genau soll das funktionieren? Es bleibt unklar, stattdessen gibt Stokowski der Leserin mit auf den Weg, häufiger mal "Fuck you" zu sagen. Das ist sicher ein super Tipp für viele brave, angepasste Mädchen, wird aber kaum das Phänomen verändern, dass die meisten Paare spätestens beim ersten Kind alle Gleichberechtigungsbemühungen fahren lassen. Das beobachtet die Autorin unter Schmerzen, so richtig erklären kann sie es nicht - auch weil Kinderhaben ein weiteres Thema ist, bei dem sie mangels eigener Erfahrung nur Studien und Experten reden lassen könnte. Klugerweise lässt sie es sein.

Über das Label Feminismus schreibt Stokowski, dass wir das alles gar nicht so nennen müssten: "Wir könnten auch sagen, es geht eben irgendwie um Sex und Macht und das ganze Drumherum." Doch können wir das wirklich? Kaum eine Rezension wird es schaffen, auf das F-Wort zu verzichten, diese hat es immerhin bis hierher geschafft.

"Untenrum frei" ist eh nicht das drölfzigtausendste Buch, das beweisen will, dass Feminismus das Leben schöner macht. Es ist ein autobiografisches Sachbuch, das am stärksten ist, wenn Stokowski Erlebtes und Erlesenes zusammenfügt - zum Beispiel, um zu erklären, warum es etwas anderes ist, wenn ein Mädchen "Bitch" auf ihrer Handyhülle stehen hat oder wenn ihr Exfreund sie so nennt.

Margarete Stokowski: Untenrum frei. Rowohlt, Reinbek. 256 Seiten, 19,95 Euro.

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