Kolumne: Vor Gericht:Ziehen wir mal den "55er"

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"Wir haben einen 20er versucht, aber es hat nur für einen 21er gereicht": Typischer Anwaltssatz, hinter dem sich Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch verbergen. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Juristen lieben nicht nur Paragrafen, sondern auch die Zahlen, mit denen sie geordnet sind. Ihre Unterhaltungen gleichen dann gerne mal einem lustigen Anwaltsbingo.

Von Ronen Steinke

Wenn Menschen sich lange kennen, dann entwickeln sie oft eine Art von Insidercode. Schön kurz und knapp. Es wissen ja eh alle, was gemeint ist. Wie in der alten Geschichte über die Häftlinge in einem Gefängnis, die sich so lange die immer gleichen Witze erzählen, bis sie irgendwann anfangen, sie einfach durchzunummerieren. "19!", ruft dann einer über den Flur des Zellentrakts. Es folgt Gekicher. "41!", antwortet ein anderer. Es bricht Gelächter aus. "8!" Die Häftlinge in den Zellen biegen sich vor Lachen.

So ähnlich klingt es manchmal, finde ich, wenn Juristinnen und Juristen sich unterhalten. "Wir haben einen 20er versucht, aber es hat nur für einen 21er gereicht": Wenn Strafverteidiger so miteinander sprechen, dann stecken dahinter durchaus sinnige Erzählungen. Hier hat jemand versucht, mit dem Verweis auf seine Schuldunfähigkeit vor Gericht seiner Strafe zu entkommen - ganz oder teilweise. Geregelt ist das in den Paragrafen 20 und 21 des Strafgesetzbuchs. Ein "20er" wäre optimal - denn das würde bedeuten, dass das Gericht von der vollständigen Schuldunfähigkeit ausgeht. Ein "21er" heißt immerhin noch, dass die Strafe abgemildert wird.

Vor Gericht kann man auch "den 55 ziehen", das ist noch so ein Ausdruck unter Anwälten, das bedeutet, die Aussage zu verweigern, nach Paragraf 55 der Strafprozessordnung. Wie wenn ein Angeklagter in den USA sagt: "I take the fifth", also: Ich berufe mich auf den fünften Verfassungszusatz, der das Recht zur Aussageverweigerung enthält. Vor Gericht begegnen einem auch noch die "31er". Das sind Beschuldigte, die von einer Kronzeugenregelung nach dem Betäubungsmittelgesetz Gebrauch machen. Das sind also Täter, die die Seiten wechseln, um gegen ihre - mutmaßlichen - Komplizen auszupacken.

Den Ausdruck "31er" hört man inzwischen sogar im Hip-Hop, so sehr hat sich das verbreitet. "Niemals 31er" heißt ein Lied von Gzuz. "Fick 31er", rappt Joker Bra. Ich kenne keinen anderen Paragrafen, der so als Code für Personen benutzt wird: "31er, die mögen wir gar nicht", hat mir neulich erst wieder ein Anwalt gesagt. Privat fährt er übrigens ein Auto mit der Zahl 137 im Nummernschild. Das ist die Zahl des Paragrafen der Strafprozessordnung, der das Recht des Beschuldigten auf eine Verteidigung garantiert. Das verstehen aber natürlich nur Insider.

Gestaunt habe ich, als ich kürzlich im Berliner Wedding an einem Tattoostudio vorbeikam, das sich "Paragraph 228" nennt. Ziemlich feinsinnig, eine Anspielung auf eine Vorschrift des Strafgesetzbuchs, die von "Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person" handelt. Es stimmt: Ein Tattoo ist, juristisch gesehen, eine Körperverletzung mit Einwilligung. Und der Tattoo-Künstler, der sich mit so etwas auskennt, hat wahrscheinlich viel mit Anwälten zu tun.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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