Nostalgie:War ich auch wirklich hier?

Aber bei aller Kritik: Ist man nicht fast schon dankbar, dass einer auf gefühlsduselige Art und Weise mal daran erinnert, was so passiert ist in den letzten Wochen und Monaten? Welche Geräte, Ereignisse, Trends, Sätze und Menschen gerade schon wieder abgemeldet sind?

Manchmal hat man schon das Gefühl, sie wirklich zu brauchen, die Kurzzeit-Nostalgie. Wie eine Halteschlaufe in einem rasend schnellen, überfüllten Zug, in dem die Ereignisse nur so durcheinanderpurzeln und wo einem das Gefühl für die Zeitlichkeit, für Chronologie längst abhandengekommen ist. War ich auch wirklich hier? Und wenn ja, was ist geblieben?

Manche fotografieren deshalb auch, als Selbstversicherung, ihr altes Smartphone und schicken das Foto dann mit ironisch gebrochener Rührseligkeit in die Welt hinaus: das Bildnis eines Geräts, mit dem man eben noch durch die Gegend lief, bis dann ein überraschendes Update kam: Sorry, Sicherheitsrisiko, mit der Welt nicht mehr kompatibel, und schon muss das Gerät, an dem man so sehr hängt, gegen ein neues Modell eingetauscht werden.

Man sollte genau hinhören, wenn Politiker die heile Vergangenheit beschwören

Man kann über das Phänomen auch mit Katharina Niemeyer sprechen, einer deutschen Medienwissenschaftlerin in Kanada, Montreal, ihr Forschungsschwerpunkt ist die Nostalgie. In ihrem Professorenbüro an der Université du Québec à Montréal steuert Niemeyer regelmäßig die sozialen Netzwerke an, schließlich kann man hier einiges lernen über die Menschen heute und ihre Leidenschaften.

Warum machen wir bei der ständigen Rückschau der unmittelbaren Vergangenheit so bereitwillig mit, warum gefällt uns das so sehr? Niemeyer erklärt das so: "Wir erleben mehr und sind auch schneller nostalgisch." Problematisch sei die Rückbesinnung, wenn das Gefühl, dass früher vieles besser war, vor allem kommerziellen oder politischen Zwecken dient. Wenn Politiker die angeblich heile Vergangenheit beschwören, als Antwort auf die angeblich chaotische Gegenwart, sollte man sehr genau hinhören, so eine Reaktion trägt nicht selten Merkmale des Reaktionären. Davon abgesehen, konstatiert Niemeyer, ganz im Einklang mit der neuesten psychologischen Forschung auf diesem Gebiet: "Nostalgie ist sehr wohl auch konstruktiv."

Niemeyer ist in der New York Times in letzter Zeit auf das Wort "nostalgize" gestoßen, acht Mal insgesamt, sie hat es mit "nostalgieren" übersetzt. Das steht so in keinem Wörterbuch, bringt die Sache aber trotzdem auf den Punkt.

Normalerweise denken die Leute: Wer nostalgisch ist, legt sich passiv in eine goldgelbe Gefühlssuppe, seufzend und schwelgend. Niemeyer ist vom Gegenteil überzeugt und sieht in der Retro-Sucht eine soziale Aktivität, den gemeinsamen Versuch, zumindest ansatzweise den Überblick über unsere Zeit zu behalten. Was erst recht für die beschleunigte Nostalgie gilt. Und natürlich für die Instant-Nostalgie: den Moment bereits vermissen, wenn man ihn erlebt. Central Park fotografieren, Sepiafilter drüber, #Nostalgia daneben schreiben, hochladen, Kommentare erwarten. Als wäre die Gegenwart ein zu schnelles Laufband.

Wie sich die Nasa die Besiedelung des Alls vorstellt? Mit ganz viel Retro-Glanz

Auch an der digitalen Vergangenheit kann man sich festhalten. Das Malprogramm Paint zum Beispiel ist so gut wie jedem Windows-Nutzer ein Begriff. Paint war immer da, in all den Jahren der Updates und Upgrades. Bis Microsoft verkündete, Paint nicht länger anzubieten, zumindest nicht standardmäßig. Die Folge: ein Erinnerungstsunami. Der Guardian veröffentlichte die schönsten Paint-Gemälde seiner Leser, darunter einen Pixel-Sheriff, der auf einem Pixel-Dino über einen Pixel-Mond reitet.

Tatsächlich ist zwischen dem Ende von Paint und der Wehmut für Paint kaum Zeit vergangen. Von Patina kann keine Rede sein. Aber das Gefühl eines Verlustes ist trotzdem real. Man will etwas bewahren, an das man sich gewöhnt hatte, und damit der Willkür der Konzerne entgegentreten, die ihren Kunden ständig neue Produkte aufdrängen. Antwort von Earthquakegirl auf das iPhone-Nostalgie-Bild auf Instagram vor ein paar Wochen: "That was such a good time."

Ob Earthquakegirl tatsächlich ins Jahr 2012 zurückwill, ist zu bezweifeln. Ja, ihre Wehmut ist an die Vergangenheit geknüpft, streng genommen geht es aber um die Zukunft, um die Frage, wie man leben will. Man trauert nicht dem Gestern hinterher, sondern beseufzt ein anderes Morgen. Man sehnt sich in Sepia nach Utopia.

Nirgendwo ist diese nostalgische Zukunftshoffnung besser zu sehen als auf 15 Plakaten der Nasa. Sie gingen vor zwei Jahren online, es sind Werbeplakate für die Besiedelung des Alls. Etwa für Kepler 16b, einen sogenannten Exoplaneten, erd-ähnlich, heimisch in einem Doppelsternsystem: Ein Mann wirft da zwei lange Schatten und läuft in den Sonnenuntergang. Oder für Enceladus, einen Saturnmond, auf dem womöglich flüssiges Wasser existiert: Dort wird ein altes Paar gezeigt, in einer Raumkapsel schwebend, eng umschlungen. Auch von der Erde gibt es ein Plakat: Mann und Frau vor einem See, Rotwild am Ufer, dahinter Wälder, Berge und der Himmel, über den Vögel ziehen. Beide tragen Raumanzüge, sie schauen aber zum Horizont statt ins Smartphone.

Das Ganze in viel blassem Braun, Gelb und Rot. Eine positive Vision der Zukunft, nostalgisch eingefärbt. Neostalgie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: