Es ist ja nicht verkehrt, wenn die Wissenschaft etwas bestätigt, was man ohnehin schon weiß, zum Beispiel, weil man es selbst fühlen kann. Da gab es etwa in diesem Jahr in der Zeitschrift Emotion, die von der American Psychological Association herausgegeben wird, einen längeren Aufsatz über nostalgische Gefühle, die von Musik hervorgerufen werden. Die Forscher fragten 226 Studenten nach ihren Gefühlen, wenn sie bestimmte Songs hörten. Leicht unzulässig verkürzt lautet das Ergebnis dieser Studie, dass Menschen, die mit einem Lied Erlebnisse verbinden, Freude oder Traurigkeit empfinden, wenn sie dieses Lied hören - je nachdem, welcher Art die Erlebnisse waren. Gibt es eine solche Verbindung zwischen dem eigenen Leben und dem Song nicht, dann reagieren die Probanden gleichgültig bis irritiert auf die Musik.
Damals waren die Haare länger und die Gefühle größer: Mick Jagger 1968.
(Foto: AP)Da kann man nur sagen: ja, so ist es. Die Welt ist nicht zufällig voller Filme und Bücher, in denen irgendeine Szene um "unser Lied" eine tragende Rolle spielt: Frau und Mann, leicht ergraut, sitzen sich im Strandrestaurant gegenüber. Aus dem Lautsprecher tönt plötzlich "Dangling Conversation" von Simon and Garfunkel: "Yes we speak of things that matter, / with words that must be said/ can analysis be worthwhile? / is the theatre really dead?" Frau kriegt feuchte Augen, Mann schluckt. "Weißt du noch, damals in Frankfurt, dein winziges Zimmer?" "Ja, da haben wir das immer gehört: . . .and I only kiss your shadow". Beide fühlen Ähnliches: war schön damals. Wäre schön, könnte es noch mal so sein. Kann aber nicht. Leider. Und wenn "Dangling Conversation" läuft, wird dieses bittersüße Gefühl besonders stark.
Das bittersüße Gefühl ist Nostalgie. (Im speziellen Simon-and-Garfunkel-Fall handelt es sich, wie es in dem Emotion-Aufsatz heißt, um music-evoked nostalgia.) Nostalgie setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen, nostos und algos. Ersteres steht für Rückkehr, letzteres für Leiden, Schmerz.
Der Bildungsbürger erkennt natürlich, dass es sich bei der Verheiratung von nostos und algos um das Leitmotiv der Odyssee handelt: Der Listenreiche irrt Jahr um Jahr zwischen Inseln, Sirenen und einäugigen Ungeheuern umher, weil ihn die Sehnsucht, der Schmerz zur Rückkehr in eine längst verlorene Heimat drängen. Dort aber, in seinem Palast, betrinken sich pöbelnde Freier zu Füßen seiner Gattin, die ihm in seiner Abwesenheit zu einem goldenen Schmachtbild geworden ist. Nichts ist mehr so, wie es gewesen zu sein scheint. Und dennoch versucht der Held, am Schluss gar mit blutiger Gewalt, jenen Zustand in der Realität herzustellen, den er sich in den Jahren von Krieg und Irrfahrt in seinem Sehnen als verlorene Wirklichkeit zurechtgeträumt hatte. Odysseus ist der erste Nostalgiker, den uns die Literatur überliefert hat.
Nostalgie als Druckkrankheit
Zu Odysseus, dem Krieger, passt die Tatsache, dass Nostalgie in der Welt der Medizin erstmals und zunächst als Krankheit schweizerischer Söldner identifiziert worden ist. In einem Aufsatz von Tim Wildschut und anderen im Journal of Personality and Psychology wird berichtet, dass der Schweizer Arzt Johannes Hofer 1688 die Symptome einer Nervenkrankheit beschrieb, die er Nostalgia nannte und die bei Schweizer Soldaten, die im Ausland fremden Herren dienten, immer wieder auftrat. Die rauen Kriegsknechte, so Hofer, konnten nicht damit aufhören, an die Heimat zu denken, sie hatten Weinkrämpfe, unregelmäßigen Herzschlag und litten unter Schlaf- und Appetitlosigkeit.
Der Arzt Scheuchzer wiederum erklärte zu Beginn des 18.Jahrhunderts das Leiden der Haudegen damit, dass die Schweizer als Bergbewohner eigentlich niedrigeren Luftdruck gewohnt seien. Gingen sie nun aber in die deutschen oder italienischen Niederungen, um dort zu kämpfen, nehme der Druck auf ihren Körper relativ zu. Das wiederum bewirke, dass das Blut vom Herzen ins Gehirn steige und dort dann die Nostalgie gleichsam als Druckkrankheit hervorrufe.