Gemischte Gefühle: Nostalgie:Ach, damals ...

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Erstmals wurde das nostalgische Sehnen an heimwehkranken Schweizern diagnostiziert - und galt danach lange als Nervenleiden. Heute wissen Psychologen, aber auch Ökonomen um die Stärken des Gefühls.

Kurt Kister

Es ist ja nicht verkehrt, wenn die Wissenschaft etwas bestätigt, was man ohnehin schon weiß, zum Beispiel, weil man es selbst fühlen kann. Da gab es etwa in diesem Jahr in der Zeitschrift Emotion, die von der American Psychological Association herausgegeben wird, einen längeren Aufsatz über nostalgische Gefühle, die von Musik hervorgerufen werden. Die Forscher fragten 226 Studenten nach ihren Gefühlen, wenn sie bestimmte Songs hörten. Leicht unzulässig verkürzt lautet das Ergebnis dieser Studie, dass Menschen, die mit einem Lied Erlebnisse verbinden, Freude oder Traurigkeit empfinden, wenn sie dieses Lied hören - je nachdem, welcher Art die Erlebnisse waren. Gibt es eine solche Verbindung zwischen dem eigenen Leben und dem Song nicht, dann reagieren die Probanden gleichgültig bis irritiert auf die Musik.

Damals waren die Haare länger und die Gefühle größer: Mick Jagger 1968. (Foto: AP)

Da kann man nur sagen: ja, so ist es. Die Welt ist nicht zufällig voller Filme und Bücher, in denen irgendeine Szene um "unser Lied" eine tragende Rolle spielt: Frau und Mann, leicht ergraut, sitzen sich im Strandrestaurant gegenüber. Aus dem Lautsprecher tönt plötzlich "Dangling Conversation" von Simon and Garfunkel: "Yes we speak of things that matter, / with words that must be said/ can analysis be worthwhile? / is the theatre really dead?" Frau kriegt feuchte Augen, Mann schluckt. "Weißt du noch, damals in Frankfurt, dein winziges Zimmer?" "Ja, da haben wir das immer gehört: . . .and I only kiss your shadow". Beide fühlen Ähnliches: war schön damals. Wäre schön, könnte es noch mal so sein. Kann aber nicht. Leider. Und wenn "Dangling Conversation" läuft, wird dieses bittersüße Gefühl besonders stark.

Das bittersüße Gefühl ist Nostalgie. (Im speziellen Simon-and-Garfunkel-Fall handelt es sich, wie es in dem Emotion-Aufsatz heißt, um music-evoked nostalgia.) Nostalgie setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen, nostos und algos. Ersteres steht für Rückkehr, letzteres für Leiden, Schmerz.

Der Bildungsbürger erkennt natürlich, dass es sich bei der Verheiratung von nostos und algos um das Leitmotiv der Odyssee handelt: Der Listenreiche irrt Jahr um Jahr zwischen Inseln, Sirenen und einäugigen Ungeheuern umher, weil ihn die Sehnsucht, der Schmerz zur Rückkehr in eine längst verlorene Heimat drängen. Dort aber, in seinem Palast, betrinken sich pöbelnde Freier zu Füßen seiner Gattin, die ihm in seiner Abwesenheit zu einem goldenen Schmachtbild geworden ist. Nichts ist mehr so, wie es gewesen zu sein scheint. Und dennoch versucht der Held, am Schluss gar mit blutiger Gewalt, jenen Zustand in der Realität herzustellen, den er sich in den Jahren von Krieg und Irrfahrt in seinem Sehnen als verlorene Wirklichkeit zurechtgeträumt hatte. Odysseus ist der erste Nostalgiker, den uns die Literatur überliefert hat.

Nostalgie als Druckkrankheit

Zu Odysseus, dem Krieger, passt die Tatsache, dass Nostalgie in der Welt der Medizin erstmals und zunächst als Krankheit schweizerischer Söldner identifiziert worden ist. In einem Aufsatz von Tim Wildschut und anderen im Journal of Personality and Psychology wird berichtet, dass der Schweizer Arzt Johannes Hofer 1688 die Symptome einer Nervenkrankheit beschrieb, die er Nostalgia nannte und die bei Schweizer Soldaten, die im Ausland fremden Herren dienten, immer wieder auftrat. Die rauen Kriegsknechte, so Hofer, konnten nicht damit aufhören, an die Heimat zu denken, sie hatten Weinkrämpfe, unregelmäßigen Herzschlag und litten unter Schlaf- und Appetitlosigkeit.

Der Arzt Scheuchzer wiederum erklärte zu Beginn des 18.Jahrhunderts das Leiden der Haudegen damit, dass die Schweizer als Bergbewohner eigentlich niedrigeren Luftdruck gewohnt seien. Gingen sie nun aber in die deutschen oder italienischen Niederungen, um dort zu kämpfen, nehme der Druck auf ihren Körper relativ zu. Das wiederum bewirke, dass das Blut vom Herzen ins Gehirn steige und dort dann die Nostalgie gleichsam als Druckkrankheit hervorrufe.

Im Laufe der Zeit rückte die Medizin von der Wahrnehmung der Nostalgie als alpine Söldnerkrankheit allmählich ab. Trotzdem betrachtete man Nostalgie nicht als etwas Positives, sondern setzte sie gerne mit heftigem Heimweh gleich. Sie galt als eine der vielen Erscheinungen von "Melancholie", mit der man bis weit ins 20. Jahrhundert hinein viele Formen von Depression oder depressiver Verstimmung erklärte.

Heute schafft der Rolling Stones - Sänger, was dem Durchschnittsnostalgiker nicht geling: die Vergangenheit wiederzubeleben. (Foto: REUTERS)

Diese Wahrnehmung hat sich stark verändert. "Während Nostalgie jahrhundertelang als psychische Krankheit betrachtet wurde", befindet der Nostalgieforscher Constantine Sedikides, "erscheint sie heute als eine grundsätzliche menschliche Stärke."

Die Forscher um Tim Wildschut fanden heraus, dass Menschen, die über nostalgische Gefühle erzählen, wesentlich häufiger von Glück, Wärme, Heimat, Geborgenheit und Ähnlichem redeten, als dass sie negativen Empfindungen Ausdruck gaben. In diesem Sinne ist Nostalgie ein durchaus positives Gefühl, eine "mit Glück verbundene Emotion" (Wildschut), die allerdings auch Traurigkeit hervorrufen kann, weil man erkennt, dass manches von dem, woran man nostalgisch denkt, unwiederbringlich ist.

In Deutschland wird gerne auch von der "Ostalgie" als einem Spezialfall der Nostalgie geredet: Der ehemalige SED-Kader und VEB-Betriebsleiter sitzt als Rentner in Strausberg und träumt sich zurück in jene Zeit, als er eine vermeintlich florierende Fabrik befehligte, alle Leute Arbeit hatten und nur die notorischen Querulanten Reisefreiheit forderten. Der Mann ist zufrieden mit dem, was war und traurig darüber, dass selbst Gregor Gysi diese Zeiten nicht zurückbringen wird.

Jenseits der grundsätzlichen Qualifikation der Nostalgie interessiert die Psychologen, wann Menschen nostalgische Gefühle entwickeln, was also letztlich Nostalgie hervorruft. Der Nostalgiker weiß das selbstverständlich: Man denkt meistens dann daran, dass früher manches besser war, wenn man heute unglücklich ist. Diese Sehnsucht nach dem besseren Gestern kann relativ klare Ursachen haben: Man fühlt sich alleine, weil einen der Partner verlassen hat oder man keinen findet; man wurde vom Chef gekränkt; man leidet an einer Krankheit. In solchen Situationen hilft die Erinnerung, das Nacherleben einst genossener Gefühle, das Imaginieren von besonders schönen Situationen, in denen man stark, geliebt oder geborgen war. Jenseits dieser konkreten Anlässe kann aber auch eine allgemeine dunkle Stimmung Nostalgie hervorrufen: Es geht mir schlecht, aber früher ging es mir besser. Wie war das eigentlich, als es mir besser ging?

Schild gegen die Dunkelheit

Nostalgie ist in diesem Sinne auch ein Schild gegen die Dunkelheit der beginnenden Depression. Wenn man die Kraft aufbringt, sich gewissermaßen mit dem Kopf und dem Herzen daran zu erinnern, dass es schon einmal besser war, dann bedeutet dies auch, dass es in absehbarer Zeit wieder besser werden kann. Wahrscheinlich wird es nicht viele Menschen geben, die gezielt nostalgisch werden, um sich der Niedergeschlagenheit zu entziehen. Trotzdem kann das Nacherleben besserer Zeiten das Selbstbewusstsein zumindest in kleinen Krisen stärken.

Auch wenn Studien ergeben, dass Nostalgie häufig in eher traurigen Gemütszuständen auftritt, heißt dies nicht, dass es nicht auch positive Trigger für die Sehnsucht nach dem Gestern geben kann. Eltern zum Beispiel reden mit ihren Kindern nicht nur aus erzieherischen Gründen darüber, was sie selbst als Kinder erfahren haben.

Der Sohn, der in die Pubertät kommt, weckt durch Dinge, die er tut, Erinnerungen, die lange verschüttet waren. Er übernachtet zum Beispiel bei einem Freund. Die Eltern sitzen, vielleicht das erste Mal seit Jahren, abends allein am Tisch und erzählen sich ihre Erlebnisse beim ersten Zelten oder der ersten Pyjama-Party (ja, so etwas gab es einmal). Im besseren Fall kann Nostalgie sogar eine höchst angenehme Form der gemeinsamen emotionalen Erinnerung an Erlebnisse mit Eltern, Kindern oder Partnern sein. Nicht Traurigkeit löst so etwas aus, sondern Vertrautheit.

Nostalgie ist jedoch nicht nur ein grundsätzlich positives Gefühl, das umso häufiger aufzutreten scheint, je älter man wird. Nostalgie ist darüber hinaus ein Phänomen, das in einer Gesellschaft wie der unseren auch zur Grundlage ökonomischer Überlegungen werden kann.

Kollektive Zeitreisen

Zum Beispiel ist im Musikgeschäft seit längerem zu beobachten, dass dort nicht mehr mit Tonträgern der große Umsatz gemacht wird, was nicht nur am Internet und den Möglichkeiten digitaler Musikspeicherung liegt. Konzerte sind wieder sehr populär geworden, vor allem die Konzerte von Bands oder Sängern, die vor 30 oder 40 Jahren ihr damals junges Publikum begeistert haben. Von den Ewigkeits-Rolling-Stones über Bob Dylan und Deep Purple bis hin zu Leonard Cohen oder Joan Baez - alles Menschen zum Teil weit jenseits der 60.

Sie verkörpern auf der Bühne für ihre, in der Mehrzahl nicht jüngeren, Fans einerseits das große nostalgische Gefühl. Andererseits gelingt ihnen etwas, was dem Durchschnittsnostalgiker zu Hause nie gelingt: Sie können Vergangenheit wiederbeleben. Sie sind in gewisser Weise Zeitmaschinen, weil etwa Mick Jagger auch 2010 "Angie" noch so singen kann, als sei auf der Bühne und drunten im Publikum noch 1974. Schon phänotypisch signalisieren viele ältere Besucher solcher Konzerte, dass sie bereit sind, sich in die Vergangenheit zurückbeamen zu lassen. Sie tragen T-Shirts, die sie vor 20Jahren bei einem Stones-Auftritt gekauft haben oder jene alten Cowboystiefel, die ihre Kinder seit langem etwas peinlich finden.

Nun haben ja auch die Nostalgie-forschenden Psychologen festgestellt, dass bestimmte Songs besonders verlässliche Auslöser der melancholischen Rückkehr in jene Zeit sind, als die Jeans noch nicht so spannten, die Haare länger waren und der Rücken nur wehtat, wenn man irgendwo, gar im Freien, sich Dingen hingegeben hatte, die in der Rocky Horror Picture Show mit der Zeile "it only leads to trouble and seat wetting" beschrieben werden. Wenn der geübte Nostalgiker so weit ist, dann legt er Leonard Cohen auf, den heute 75-Jährigen, der schon vor 22 Jahren diese Zeilen geschrieben hat: "My friends are gone and my hair is grey, I ache in the places I used to play". Genau das beschreibt jene Grundstimmung, die unweigerlich zur Nostalgie führt.

© SZ vom 24.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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