Vor wenigen Wochen stellte der Instagram-Nutzer Niche.madi das Bild seines alten iPhone ins Netz, es handelte sich um das Modell 4S. Es sei ihm wieder in die Hände gefallen, schrieb er daneben, legte noch das alte Ladekabel dazu und berichtete von dem Gefühl, das er bei diesem Anblick empfand: Wärme einerseits, aber auch Fassungslosigkeit. Aus Mangel an Alternativen vielleicht, aber auch weil es einfach sehr gut passte, stand "#nostalgia" neben dem Bild.
Neben dem Bild eines Handys, das höchstens fünf oder sechs Jahre alt war.
Zu den Phänomenen, die in jede Pore unseres Lebens eingedrungen sind, gehört die Nostalgie. Jenes bekannte Ziehen in der Brust, das an die Vergangenheit gebunden ist, ob es sie genau so gegeben hat oder auch nicht. Nostalgisch sind wir alle, auf gewisse Weise. Aber wer genauer hinschaut, hat im letzten Jahrzehnt noch etwas bemerkt: Die Nostalgie-Zyklen werden immer kürzer. Erst von Jahrzehnten auf Jahre, dann auf Monate, inzwischen sogar auf Wochen und Tage.
Es gibt die Myspace-Nostalgiker, eine Gruppe von Menschen, die einem Vorläufer von Facebook hinterhertrauern, der irgendwann um 2012 an Bedeutung verlor. Oder nehmen wir den Darsteller von Alf, der vor zwei Jahren starb: Bereits kurz nach seinem Ableben schwappte eine Erinnerungswelle durchs Netz. Und irgendwer hat mal auf allen Kanälen die Aktion "Throwback Thursday" etabliert, #tbt. Dabei geht es darum, jeden Donnerstag Kuriositäten aus früheren Zeiten hervorzukramen. Schon nach wenigen Monaten begannen die Ersten damit, Bilder aus der vergangenen Woche zu posten.
Eine ganze Industrie verfolgt den Plan, uns Dinge von früher noch einmal zu verkaufen
Wir werden also nicht mehr nur nostalgisch, was die Zeit vor zwanzig, dreißig Jahren betrifft. Nostalgie funktioniert inzwischen genauso mit Objekten aus dem vergangenen Jahr, mit Bildern, die gerade noch taufrisch waren. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis uns die etwas entferntere Vergangenheit komplett verloren gehe, schreibt die US-Satireseite The Onion.
Man könnte das Phänomen beschleunigte Nostalgie nennen. Ach und seufz und "Weißt du noch, vor drei Tagen?" Etwas schnurrt da zusammen. Aber warum eigentlich?
Simon Reynolds bekommt man schon ganz früh morgens ans Telefon, in Los Angeles, wo der Musikkritiker und Buchautor lebt und schreibt. Er erzählt sofort von den Janet-Jackson- und Busta-Rhymes-Videos, die ihm Facebook immer wieder in die Timeline legt, weil er sie selbst, vor kurzer Zeit, gepostet hat. Facebook verfolge ja immer hartnäckiger das Ziel, Nutzer wie ihn mit solchen Erinnerungsbotschaften nostalgisch zu stimmen und damit noch mehr abhängig zu machen. "Aber die Versuche sind völlig lächerlich." Reynolds' Texte und Bücher sind Diagnosen unserer Zeit. Sein letztes Buch hieß "Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann". In der Geschichte der Menschheit habe es keine Gesellschaft gegeben, schreibt er, "die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war".
Auch Reynolds hat die beschleunigte Nostalgie bemerkt, irgendwann Ende der Nullerjahre nahm sie Fahrt auf. Was sich der Autor damit erklärt, dass inzwischen eine veritable Nostalgie-Industrie existiert. "Die Unternehmen wollen, dass du ihr Zeug klickst oder kaufst", sagt Reynolds, "und was läuft am besten? Nostalgie." T-Shirts mit halb verblichenen Levi's-Logos darauf, obwohl wir die doch gerade erst hatten. Polaroids überall. Und was ist eigentlich mit den Casio-Uhren, die viele wieder sentimental an ihrem Handgelenk durchs Leben tragen? Wie lange ist das noch mal her?
Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Erlebniswelten Einzelner immer weiter diffundieren. Jeder mischt sich heute sein eigenes Fernsehprogramm, seine individuelle Playlist, sein ganz eigenes Outfit zusammen. Abseits von Fußballweltmeisterschaften fällt das gemeinsame Erlebnis weitgehend aus. Die kollektive Erinnerung an vergangene Dinge stellt da endlich wieder die kuschelige Nähe her, die uns ansonsten abgeht. Und damit lassen sich die Dinge eben auch verkaufen.
In der US-Werbebranche ist "Nostalgia Marketing" schon ein feststehender Begriff. Besonders die Millennials, die zwischen 1980 und 2000 Geborenen, reagieren verlässlich darauf, bei gleichzeitig noch überschaubarer Lebenszeit. Die Modebranche insgesamt und vor allem die Turnschuhhersteller sind darauf genauso kalibriert wie die Filmindustrie, die längst dazu übergegangen ist, Remake an Remake zu reihen, "Stranger Things"-Staffel eins an Staffel zwei an die x-te Neuauflage von Spiderman, Batman, Superman - Retro in allen Varianten. Wehmütig gestimmt, kauft und klickt man gerne.
Es gibt eine Funktion in den sozialen Netzwerken, die die Spannung von Erinnerung und Kommerz ganz gut auf den Punkt bringt. Bei Facebook heißt sie "An diesem Tag" und führt dazu, dass einem ungefragt alte Beiträge in die Timeline gelegt oder gleich ganze Diashows präsentiert werden. Nicht jeder wird bei dem dann Dargebotenen gleich wehmütig, aber in diesem Sinne aufbereitet ist es schon.
Die Versuche sind, wie bereits angemerkt, mehr oder weniger lächerlich, aber wir tragen auch selbst dazu bei, dass sie Erfolg haben. Mit unserer Obsession, das eigene Leben in Echtzeit zu dokumentieren, woraus die Nostalgie-Industrie dann wieder neuen Treibstoff generiert. Mehr Nostalgie, mehr Klicks, mehr Verweildauer, mehr Werbezeit, mehr Umsatz.