Nostalgie:War das schön, gestern

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In der US-Werbebranche ist "Nostalgia Marketing" schon ein feststehender Begriff. Besonders Millennials, zwischen 1980 und 2000 Geborene, reagieren verlässlich darauf, bei gleichzeitig noch überschaubarer Lebenszeit. (Foto: N/A)

Handys, Filme, Werbung: Kaum ist etwas vergangen, ist es schon Gegenstand nostalgischer Schwärmerei. Über die Verklärung des gerade erst Passierten.

Von Hannes Vollmuth

Vor wenigen Wochen stellte der Instagram-Nutzer Niche.madi das Bild seines alten iPhone ins Netz, es handelte sich um das Modell 4S. Es sei ihm wieder in die Hände gefallen, schrieb er daneben, legte noch das alte Ladekabel dazu und berichtete von dem Gefühl, das er bei diesem Anblick empfand: Wärme einerseits, aber auch Fassungslosigkeit. Aus Mangel an Alternativen vielleicht, aber auch weil es einfach sehr gut passte, stand "#nostalgia" neben dem Bild.

Neben dem Bild eines Handys, das höchstens fünf oder sechs Jahre alt war.

Zu den Phänomenen, die in jede Pore unseres Lebens eingedrungen sind, gehört die Nostalgie. Jenes bekannte Ziehen in der Brust, das an die Vergangenheit gebunden ist, ob es sie genau so gegeben hat oder auch nicht. Nostalgisch sind wir alle, auf gewisse Weise. Aber wer genauer hinschaut, hat im letzten Jahrzehnt noch etwas bemerkt: Die Nostalgie-Zyklen werden immer kürzer. Erst von Jahrzehnten auf Jahre, dann auf Monate, inzwischen sogar auf Wochen und Tage.

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Es gibt die Myspace-Nostalgiker, eine Gruppe von Menschen, die einem Vorläufer von Facebook hinterhertrauern, der irgendwann um 2012 an Bedeutung verlor. Oder nehmen wir den Darsteller von Alf, der vor zwei Jahren starb: Bereits kurz nach seinem Ableben schwappte eine Erinnerungswelle durchs Netz. Und irgendwer hat mal auf allen Kanälen die Aktion "Throwback Thursday" etabliert, #tbt. Dabei geht es darum, jeden Donnerstag Kuriositäten aus früheren Zeiten hervorzukramen. Schon nach wenigen Monaten begannen die Ersten damit, Bilder aus der vergangenen Woche zu posten.

Eine ganze Industrie verfolgt den Plan, uns Dinge von früher noch einmal zu verkaufen

Wir werden also nicht mehr nur nostalgisch, was die Zeit vor zwanzig, dreißig Jahren betrifft. Nostalgie funktioniert inzwischen genauso mit Objekten aus dem vergangenen Jahr, mit Bildern, die gerade noch taufrisch waren. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis uns die etwas entferntere Vergangenheit komplett verloren gehe, schreibt die US-Satireseite The Onion.

Man könnte das Phänomen beschleunigte Nostalgie nennen. Ach und seufz und "Weißt du noch, vor drei Tagen?" Etwas schnurrt da zusammen. Aber warum eigentlich?

Simon Reynolds bekommt man schon ganz früh morgens ans Telefon, in Los Angeles, wo der Musikkritiker und Buchautor lebt und schreibt. Er erzählt sofort von den Janet-Jackson- und Busta-Rhymes-Videos, die ihm Facebook immer wieder in die Timeline legt, weil er sie selbst, vor kurzer Zeit, gepostet hat. Facebook verfolge ja immer hartnäckiger das Ziel, Nutzer wie ihn mit solchen Erinnerungsbotschaften nostalgisch zu stimmen und damit noch mehr abhängig zu machen. "Aber die Versuche sind völlig lächerlich." Reynolds' Texte und Bücher sind Diagnosen unserer Zeit. Sein letztes Buch hieß "Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann". In der Geschichte der Menschheit habe es keine Gesellschaft gegeben, schreibt er, "die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war".

Auch Reynolds hat die beschleunigte Nostalgie bemerkt, irgendwann Ende der Nullerjahre nahm sie Fahrt auf. Was sich der Autor damit erklärt, dass inzwischen eine veritable Nostalgie-Industrie existiert. "Die Unternehmen wollen, dass du ihr Zeug klickst oder kaufst", sagt Reynolds, "und was läuft am besten? Nostalgie." T-Shirts mit halb verblichenen Levi's-Logos darauf, obwohl wir die doch gerade erst hatten. Polaroids überall. Und was ist eigentlich mit den Casio-Uhren, die viele wieder sentimental an ihrem Handgelenk durchs Leben tragen? Wie lange ist das noch mal her?

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Erlebniswelten Einzelner immer weiter diffundieren. Jeder mischt sich heute sein eigenes Fernsehprogramm, seine individuelle Playlist, sein ganz eigenes Outfit zusammen. Abseits von Fußballweltmeisterschaften fällt das gemeinsame Erlebnis weitgehend aus. Die kollektive Erinnerung an vergangene Dinge stellt da endlich wieder die kuschelige Nähe her, die uns ansonsten abgeht. Und damit lassen sich die Dinge eben auch verkaufen.

In der US-Werbebranche ist "Nostalgia Marketing" schon ein feststehender Begriff. Besonders die Millennials, die zwischen 1980 und 2000 Geborenen, reagieren verlässlich darauf, bei gleichzeitig noch überschaubarer Lebenszeit. Die Modebranche insgesamt und vor allem die Turnschuhhersteller sind darauf genauso kalibriert wie die Filmindustrie, die längst dazu übergegangen ist, Remake an Remake zu reihen, "Stranger Things"-Staffel eins an Staffel zwei an die x-te Neuauflage von Spiderman, Batman, Superman - Retro in allen Varianten. Wehmütig gestimmt, kauft und klickt man gerne.

Es gibt eine Funktion in den sozialen Netzwerken, die die Spannung von Erinnerung und Kommerz ganz gut auf den Punkt bringt. Bei Facebook heißt sie "An diesem Tag" und führt dazu, dass einem ungefragt alte Beiträge in die Timeline gelegt oder gleich ganze Diashows präsentiert werden. Nicht jeder wird bei dem dann Dargebotenen gleich wehmütig, aber in diesem Sinne aufbereitet ist es schon.

Die Versuche sind, wie bereits angemerkt, mehr oder weniger lächerlich, aber wir tragen auch selbst dazu bei, dass sie Erfolg haben. Mit unserer Obsession, das eigene Leben in Echtzeit zu dokumentieren, woraus die Nostalgie-Industrie dann wieder neuen Treibstoff generiert. Mehr Nostalgie, mehr Klicks, mehr Verweildauer, mehr Werbezeit, mehr Umsatz.

Aber bei aller Kritik: Ist man nicht fast schon dankbar, dass einer auf gefühlsduselige Art und Weise mal daran erinnert, was so passiert ist in den letzten Wochen und Monaten? Welche Geräte, Ereignisse, Trends, Sätze und Menschen gerade schon wieder abgemeldet sind?

Manchmal hat man schon das Gefühl, sie wirklich zu brauchen, die Kurzzeit-Nostalgie. Wie eine Halteschlaufe in einem rasend schnellen, überfüllten Zug, in dem die Ereignisse nur so durcheinanderpurzeln und wo einem das Gefühl für die Zeitlichkeit, für Chronologie längst abhandengekommen ist. War ich auch wirklich hier? Und wenn ja, was ist geblieben?

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Manche fotografieren deshalb auch, als Selbstversicherung, ihr altes Smartphone und schicken das Foto dann mit ironisch gebrochener Rührseligkeit in die Welt hinaus: das Bildnis eines Geräts, mit dem man eben noch durch die Gegend lief, bis dann ein überraschendes Update kam: Sorry, Sicherheitsrisiko, mit der Welt nicht mehr kompatibel, und schon muss das Gerät, an dem man so sehr hängt, gegen ein neues Modell eingetauscht werden.

Man sollte genau hinhören, wenn Politiker die heile Vergangenheit beschwören

Man kann über das Phänomen auch mit Katharina Niemeyer sprechen, einer deutschen Medienwissenschaftlerin in Kanada, Montreal, ihr Forschungsschwerpunkt ist die Nostalgie. In ihrem Professorenbüro an der Université du Québec à Montréal steuert Niemeyer regelmäßig die sozialen Netzwerke an, schließlich kann man hier einiges lernen über die Menschen heute und ihre Leidenschaften.

Warum machen wir bei der ständigen Rückschau der unmittelbaren Vergangenheit so bereitwillig mit, warum gefällt uns das so sehr? Niemeyer erklärt das so: "Wir erleben mehr und sind auch schneller nostalgisch." Problematisch sei die Rückbesinnung, wenn das Gefühl, dass früher vieles besser war, vor allem kommerziellen oder politischen Zwecken dient. Wenn Politiker die angeblich heile Vergangenheit beschwören, als Antwort auf die angeblich chaotische Gegenwart, sollte man sehr genau hinhören, so eine Reaktion trägt nicht selten Merkmale des Reaktionären. Davon abgesehen, konstatiert Niemeyer, ganz im Einklang mit der neuesten psychologischen Forschung auf diesem Gebiet: "Nostalgie ist sehr wohl auch konstruktiv."

Niemeyer ist in der New York Times in letzter Zeit auf das Wort "nostalgize" gestoßen, acht Mal insgesamt, sie hat es mit "nostalgieren" übersetzt. Das steht so in keinem Wörterbuch, bringt die Sache aber trotzdem auf den Punkt.

Normalerweise denken die Leute: Wer nostalgisch ist, legt sich passiv in eine goldgelbe Gefühlssuppe, seufzend und schwelgend. Niemeyer ist vom Gegenteil überzeugt und sieht in der Retro-Sucht eine soziale Aktivität, den gemeinsamen Versuch, zumindest ansatzweise den Überblick über unsere Zeit zu behalten. Was erst recht für die beschleunigte Nostalgie gilt. Und natürlich für die Instant-Nostalgie: den Moment bereits vermissen, wenn man ihn erlebt. Central Park fotografieren, Sepiafilter drüber, #Nostalgia daneben schreiben, hochladen, Kommentare erwarten. Als wäre die Gegenwart ein zu schnelles Laufband.

Wie sich die Nasa die Besiedelung des Alls vorstellt? Mit ganz viel Retro-Glanz

Auch an der digitalen Vergangenheit kann man sich festhalten. Das Malprogramm Paint zum Beispiel ist so gut wie jedem Windows-Nutzer ein Begriff. Paint war immer da, in all den Jahren der Updates und Upgrades. Bis Microsoft verkündete, Paint nicht länger anzubieten, zumindest nicht standardmäßig. Die Folge: ein Erinnerungstsunami. Der Guardian veröffentlichte die schönsten Paint-Gemälde seiner Leser, darunter einen Pixel-Sheriff, der auf einem Pixel-Dino über einen Pixel-Mond reitet.

Tatsächlich ist zwischen dem Ende von Paint und der Wehmut für Paint kaum Zeit vergangen. Von Patina kann keine Rede sein. Aber das Gefühl eines Verlustes ist trotzdem real. Man will etwas bewahren, an das man sich gewöhnt hatte, und damit der Willkür der Konzerne entgegentreten, die ihren Kunden ständig neue Produkte aufdrängen. Antwort von Earthquakegirl auf das iPhone-Nostalgie-Bild auf Instagram vor ein paar Wochen: "That was such a good time."

Ob Earthquakegirl tatsächlich ins Jahr 2012 zurückwill, ist zu bezweifeln. Ja, ihre Wehmut ist an die Vergangenheit geknüpft, streng genommen geht es aber um die Zukunft, um die Frage, wie man leben will. Man trauert nicht dem Gestern hinterher, sondern beseufzt ein anderes Morgen. Man sehnt sich in Sepia nach Utopia.

Nirgendwo ist diese nostalgische Zukunftshoffnung besser zu sehen als auf 15 Plakaten der Nasa. Sie gingen vor zwei Jahren online, es sind Werbeplakate für die Besiedelung des Alls. Etwa für Kepler 16b, einen sogenannten Exoplaneten, erd-ähnlich, heimisch in einem Doppelsternsystem: Ein Mann wirft da zwei lange Schatten und läuft in den Sonnenuntergang. Oder für Enceladus, einen Saturnmond, auf dem womöglich flüssiges Wasser existiert: Dort wird ein altes Paar gezeigt, in einer Raumkapsel schwebend, eng umschlungen. Auch von der Erde gibt es ein Plakat: Mann und Frau vor einem See, Rotwild am Ufer, dahinter Wälder, Berge und der Himmel, über den Vögel ziehen. Beide tragen Raumanzüge, sie schauen aber zum Horizont statt ins Smartphone.

Das Ganze in viel blassem Braun, Gelb und Rot. Eine positive Vision der Zukunft, nostalgisch eingefärbt. Neostalgie.

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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