Nick Carter:Der Comeback-Street-Boy

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Mit zwölf Jahren wurde Nick Carter auf den Popstar-Strich geschickt, dann folgte der Absturz. Jetzt ist er 31 und startet schon zum zweiten Mal eine Solo-Karriere.

Tanja Rest

Das Konzert, das dieser Solokarriere den ersten Schub geben soll, ist mit Hilfe einiger Backstreet-Boys-Nummern gerade in Fahrt gekommen, da reißt die Musik plötzlich ab. Auf die Bühne tritt ein Mann mit Anzug, gelber Krawatte, Seitenscheitel und angestrengt würdevoller Mimik, eine Aktenmappe unterm Arm. Er ähnelt Guido Westerwelle, heißt aber Olaf. Olaf vom Guinness Book of Records. Man werde, sagt eine fröhliche PR-Frau, nun gleich einen Weltrekord versuchen, es gehe darum, den Refrain des Backstreet-Boys-Songs "As long as you love me" fünf Minuten lang zu pfeifen.

Als Backstreet-Boy machte Nick Carter weichgespülten Mainstream-Pop und wurde zum Held Millionen junger Mädchen. Heute macht Nick Carter immer noch weichgespülten Mainstream-Pop. Wenn auch in kleineren Hallen. (Foto: dpa)

Lange Gesichter bei den Mädchen. Ihr Star hat gerade versprochen, den vierten Knopf seines Hemdes in Kürze öffnen zu wollen, und jetzt das. "Ich bin zu heiser zum Pfeifen", pampt eine dünne Brünette und verzieht sich nach hinten, der Rest spitzt etwas lustlos die Lippen, die Band spielt ein paar Takte an, dann beginnt der Weltrekordversuch.

Nick Carter pfeift. Er pfeift mit dem gleichen Enthusiasmus, mit dem er eben noch gesungen hat, er ist sich nicht zu schade für die Aktion. In diesen langen fünf Minuten bringt er alle Gesten unter, die er als Backstreet Boy gelernt hat: den federnden Seitgalopp über die Bühne, den flehentlich ausgestreckten Arm, die aufs Herz klopfende Hand, die geschlossenen Augen als Zeichen für höchste Emotionalität.

"Ziele immer auf den Mond, denn wenn du ihn verfehlst, landest du wenigstens zwischen den Sternen", hat er vorhin im Hotelzimmer gesagt. Aber manchmal kannst du auf den Mond zielen, wie du willst, du landest doch nur im Berliner Fritz Club vor 200 ungeduldigen Mädchen, die jetzt noch fünf Minuten länger warten müssen, bis du endlich das Hemd aufknöpfst.

Das "Music & Lifestyle Hotel Nhow" am Spreeufer verbreitet den Charme einer MTV-Studiokulisse. Aus den Lautsprechern rinnt die Sirupstimme von Justin Bieber, die Rezeption ist pink, die Bar bläulich, die Sitzlandschaften in der Lobby sehen aus wie Blubberblasen, die zu Schaumstoff geronnen sind. Es ist der Nachmittag vor dem Konzert. In den Blubbersesseln sitzen die Mädchen.

Es sind eigentlich Frauen zwischen Mitte 20 und Mitte 30, aber dann halt doch wieder Mädchen, weil sie Autogrammkarten und Digicams so fest umklammert haben, dass die Haut über den Fingerknöcheln blutleer ist. Das Management hat die Location an den Fanclub durchsickern lassen, der Fanclub hat sie über Twitter verbreitet, und nun ist die Lobby des Nhow Hotels voll. Die Mädchen warten auf Nick.

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"Du kannst ihm alle Fragen stellen, aber bitte nicht nach Paris Hilton", sagt die Pressefrau an der Bar. "Er ist voll locker und gut drauf, aber frag besser nicht nach Paris", sagt der Mann vom Management im Aufzug. Dann geht es in einen großen Raum mit Panoramascheibe, in dem ein paar Leute auf ihren iPhones rumdrücken und Red Bull trinken. Weit unten liegt die Spree, darüber spannt sich ein schiefergrauer Himmel, der an einzelnen Stellen die Sonne durchlässt.

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In diesem Licht erscheint Nick Carter wie aus Gold gehämmert. Goldblonde, sorgfältig hochgegelte Haare, goldbraune Haut, muskulöse Unterarme, stahlblaue Augen mit gleichmütigem Blick. Es ist sein schätzungsweise zehntes Interview an diesem Tag.

Die Karriere der Backstreet Boys hat Mitte der Neunziger in Deutschland angefangen und dann erst in ihrer Heimat USA gezündet. Darum ist Carter heute hier. "Warum soll es nicht ein zweites Mal funktionieren, diesmal für mich alleine?" Vor neun Jahren hat er schon einmal eine Solo-Karriere versucht, ohne Erfolg, er sagt, er sei nicht bereit gewesen damals: "Es ist anders, wenn du alleine der Bühne stehst. Ich war auf den Druck nicht vorbereitet. Ich war rebellisch und wollte meine eigene Musik machen, aber ich hatte keine Kontrolle." Diesmal habe er an den Songs mitgearbeitet und fühle sich wohl, in seiner Haut, mit seiner Musik. Er sagt: "Dies ist der Moment."

Das zweite Solo-Album von Nick Carter erscheint im Juni und trägt den programmatischen Titel "I'm taking off". Es versammelt auf Produzentenseite ein paar millionenschwere Namen und wird von seiner Agentur als "internationaler Mainstream-Pop" beworben, der vom Sound der Backstreet Boys "selbstredend nicht meilenweit entfernt" sei. Und genau so klingt es dann auch. Zwölf routinierte Popsongs zwischen Dancefloor und Knutschecke, die an manchen Stellen bis zur Konturlosigkeit weichgespült sind, sich bei Radio Energy aber gut machen werden. Die Rebellion ist raus aus Carters Musik. Genau deshalb könnte es diesmal funktionieren.

Carter sagt, er freue sich auf das intime Ambiente des Fritz Clubs, peile aber die O2-Arena an. Mitte Juni singe er mit den Backstreet Boys in Boston vor 40.000 Menschen, sein Leben lang habe er mit den Backstreet Boys in Arenen und Stadien gesungen, warum nicht auch solo? "Shoot for the moon" sei sein Motto.

Fühlt er sich mit dieser Vita, mit 31, nicht manchmal wie ein alter Mann?

"Ich fühle mich sehr jung. Ich blicke in jeder Sekunde in die Zukunft."

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Aber vielleicht gibt es doch Momente, in denen er fürchtet, das bereits Erreichte nicht mehr toppen zu können?

"Nein. Nie."

Kam der Durchbruch mit der Band in seinem Leben nicht sehr früh?

"Ich habe andere Jugendliche vom Dach der Welt stürzen sehen, aber für mich hat es sich großartig entwickelt."

Trotzdem. Gab es nicht auch schlechte Zeiten mit den Backstreet Boys?

Nick Carter dreht eine Kaffeetasse zwischen den Fingern und blinzelt hinunter zum Kanal, wo sich die Spreedampfer langsam durchs Wasser schieben. Er sagt: "Es gab nichts Schlechtes bei den Backstreet Boys."

Das alles ist Bullshit. Man selbst weiß es, er weiß es, alle im Raum wissen es. Andererseits, warum sollte er die wahre Geschichte schon erzählen, noch dazu einem Journalisten? Selbstentblößung ist eine harte und zerstörerische Währung in diesem Geschäft, und Nick Carter hat weiß Gott oft genug damit bezahlt.

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Die Backstreet Boys wurden 1993 von Lou Pearlman in die globale Umlaufbahn geschossen, einem amerikanischen Geschäftsmann, der mit einer Charter-Airline reich geworden war und an die Triumphe von Take That und den New Kids on the Block anknüpfen wollte; um die Konkurrenz anzuheizen, schob er zwei Jahre später noch 'N Sync mit Justin Timberlake hinterher. Die fünf Backstreet Boys sahen nicht nur gut aus, sie konnten auch tanzen und fabelhaft a capella singen, unter den Teenie-Gruppen gelten sie bis heute als eine der besseren. Der Erfolg kam schnell und gnadenlos. Es war die Anfangszeit der Boybands, als Musikkritiker noch bis zu den Beatles zurückdenken mussten, um die hysterische Mädchenverzückung in Worte zu fassen. Die Backstreet Boys haben mehr als 100 Millionen Platten verkauft.

Nick Carter wurde von seiner Mutter auf den Popstar-Strich geschickt, da war er zwölf. Er hat nie eine Highschool besucht, nie mit Freunden am Basketballfeld abgehangen, er hat niemals einem Mädchen an der Kinokasse Popcorn gekauft in der Hoffnung, es später vielleicht küssen zu dürfen. Er hatte alle Mädchen - also keines. In der Band besaß er nicht die beste Stimme, aber er war der Jüngste und Blondeste. Carter wurde in diesem ganzen Wahnsinn der Süße Junge No. 1, und es bekam ihm nicht.

Er fing an zu trinken und Süßigkeiten in sich hineinzufressen. Er träumte sich weg vom Softpop der Backstreet Boys, hin zu einer Solo-CD im Stil von Bryan Adams. 2002 erschien sein Album "Now or Never", es floppte. Vier Jahre später ging es ihm dann dreckig genug, dass ihn das Fernsehen mit seinen vier Geschwistern in der Reality-Show "House of Carters" ausstellen konnte. Bei der anschließenden Backstreet-Boys-Tour war das Grinsen wie mit Schraubzwingen in Carters Gesicht befestigt, er brachte mehr als hundert Kilo auf die Waage, nach Boygroup-Maßstäben war er fett. Kurz darauf ließ er sich wegen Drogen- und Alkoholsucht behandeln. Wenn es stimmt, dass Carter nie zurückblickt, dann ist das eine weise Entscheidung.

Leute aus seinem Umfeld sagen, er habe heute ein unprätentiöses Haus in Florida, eine ganz normale Freundin, einen relativ gesunden Lebenswandel. Und dass man froh sein müsse, dass er die Kurve noch gekriegt habe.

Die Backstreet Boys hat er nie verlassen. Über sein kommendes Mainstream-Pop-Album sagt Carter, der immer Rock machen wollte: "Ich habe inzwischen begriffen, dass ich Teil von etwas Großem und Besonderen bin und es langsam angehen muss, schon wegen der Fans." Die Fans, das sind Leute wie Silvana, 32, die extra aus Schweden angereist ist und unten in der Lobby auf ein Autogramm wartet. "Die erste Solo-Platte war irgendwie komisch", sagt sie, "Nick ist ein Backstreet Boy, Rockmusik passt da nicht." Die Fans mögen ihm seine Exzesse verziehen haben, aber die Freiheit haben sie ihm nicht gegönnt.

Im Fritz Club stellt Carter später den Guinness-Weltrekord im Dauerpfeifen eines Backstreet-Boys-Refrains auf. Er beantwortet Fragen aus dem Publikum und singt für ein Mädchen namens Leyla ein herzzerreißendes "Happy Birthday". Seine eigenen Songs und die der Band performed er, als stünden wirklich 40.000 Leute da, es gibt keinen Zweifel daran, dass die Bühne sein Ort ist. Wenn Carter singt, ist er wie ein Dampfer auf der Spree: Er kennt die Richtung.

Irgendwann öffnet er dann auch den vierten Knopf seines Hemdes und krempelt die Ärmel hoch, am linken Unterarm wird die Tätowierung sichtbar. Ein Totenschädel und der Titel eines Mick-Jagger-Songs: "Old Habits Die Hard". Ob das Tattoo eine tiefere Bedeutung habe, war die Frage an ihn im Interview. Es sei, was es sei, war die Antwort. Tatsächlich prangte dort, wo die alten Angewohnheiten heute einen langsamen Tod sterben, vor acht Jahren noch ein kleines Herz. Daneben stand: "Paris".

© SZ vom 21.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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