Muttertag:"Stiefmutter" ist von gestern

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"Spiegelein, Spiegelein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Natürlich die böse Stiefmutter (Julia Roberts). (Foto: Jan Thijs)

Stiefmonster, Maleficent, Alien, böse: Die Stiefmutter kommt seit jeher schlecht weg. Höchste Zeit, ihr Image der Realität anzupassen. Ein Sprachwissenschaftler erklärt, wie es funktionieren kann.

Von Violetta Simon

Am Muttertag werden die Mütter gefeiert, aber schließt das auch die Stiefmütter mit ein? Die Stiefmutter hat ein Imageproblem, nicht nur in Märchen und alten Filmen - obwohl sie heutzutage meist mit aller Kraft versucht, ihre Rolle als Zweitmutter in der Patchworkfamilie zu erfüllen und sich um die Kinder zu kümmern, ohne die eigenen Kompetenzen zu überschreiten. Höchste Zeit also, dieser Entwicklung zumindest sprachlich gerecht zu werden und der Stiefmutter einen neuen Namen zu geben, findet der Berliner Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, 48.

SZ: "Stiefmutter" klingt nicht gerade liebenswürdig. Wie ist der Begriff eigentlich entstanden?

Anatol Stefanowitsch: "Stief" steht für "verwaist" oder "Verlust". Laut Grimmschem Wörterbuch bedeutet es "Der Eltern, der Söhne, des himmlischen Reiches beraubt". Lange wurden Stiefkinder als Waisenkinder bezeichnet, weil die Männer wieder heirateten, wenn die leibliche Mutter verstorben war.

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Das ist aber kein Grund, Stiefmütter in Märchen als "böse" zu bezeichnen.

Rational ist das auch nicht zu begründen. Um die Idee des traditionellen Familienmodells kam man im 18./19. Jahrhundert nicht herum, die Kinder brauchten einen Ersatz für die Mutter, der Mann für die Ehefrau. Natürlich waren Stiefmütter nicht per se böse.

Umso seltsamer, dass der Ausdruck bis heute negativ besetzt blieb. Warum wurde er nicht von der "lieben Stiefmutter" abgelöst?

Weil die Situation bis heute negativ besetzt ist. Mit dem Unterschied, dass Menschen aus Liebe eine neue Partnerschaft eingehen. Somit basiert das "Stief"-Verhältnis zwar nicht mehr auf dem Tod, sondern auf der Trennung von Vater und Mutter. Das schafft Raum für eine neue Problematik.

Und warum bleibt das an der Frau hängen? Märchen kennen jedenfalls keine bösen Stiefväter.

Ein Mann, der eine Frau mit Kindern heiratete und diese mitversorgte, galt als edelmütig. Er ging die neue Ehe ja trotz und nicht wegen der Kinder ein. So viel Verantwortungsbewusstsein verdiente mindestens die Bezeichnung "Vater". Von einer Frau dagegen wurde erwartet, dass sie eine echte Zuneigung zu den Kindern ihres Partners entwickelt und sich emotional einbringt. Andernfalls bezeichnete man sie als böse.

Das heißt, Stiefväter müssen dem gängigen Männerbild entsprechen, während Frauen die Rolle der Ersatzmutter erfüllen sollen.

Genau. Das Wort Mutter impliziert zwei Bedeutungen: zum einen die Frau, die das Kind geboren hat. Zum anderen die Frau, die es aufzieht, sich die Sorgen anhört, am Bett sitzt, mit ihm spielt. Diese Rollen fallen bei Müttern in der Regel zusammen. Der Vater ist zum einen der Erzeuger - was früher weniger ausschlaggebend für die Bindung zum Kind war. Darüber hinaus ist es der Mann, der das Kind aufzieht und versorgt. Diese soziale Funktion stand sehr lange im Vordergrund, denn früher wusste man nie so genau, wer der Erzeuger war. Somit stand ihm die Bezeichnung Vater schon dadurch zu, dass er die Familie ernährte.

Die Vaterrolle erschöpft sich nun längst nicht mehr darin, Geld ranzuschaffen, genauso wenig, wie die Mutterrolle diese Aufgabe ausschließt.

Aber es dauert, bis die Sprache aufholt, und nicht nur die: Nach wie vor erhalten Väter, die eine besonders soziale Rolle einnehmen, indem sie etwa Erziehungsurlaub nehmen, besonders viel Anerkennung und Zuspruch. Bei Frauen wird das bis heute selbstverständlich erwartet.

In Deutschland leben etwa 13 Prozent der Kinder mit Stiefmüttern oder -vätern. Da müsste sich doch allmählich etwas tun, oder?

Aber nicht überall gleich schnell. In manchen ländlichen Regionen, in denen das Ideal der echten Mutter noch vertreten ist, empfindet man die Bezeichnung "Stiefmutter" eher abwertend. In urbanen Gegenden gilt die Stiefmutter weniger als Eindringling in die Kernfamilie und ist gesellschaftlich akzeptiert. Das neue Familienmodell ist eine bewusste Entscheidung. Die Mitglieder solcher Familien sind durchaus auf der Suche nach Alternativen, sie probieren sich in der Kommunikation aus.

Mit welchem Ergebnis?

Viele verzichten auf ein spezielles Wort für ihr Verhältnis und reden sich untereinander mit Vornamen an. Nach außen hin variieren sie, je nachdem, wie wichtig es ist, konkret zu werden. Wenn es irrelevant ist, das genaue Verwandtschaftsverhältnis zu erläutern, sagen sie einfach "Ich bin die Mutter". Mein Sohn zum Beispiel bezeichnet mich vor anderen je nach Situation unterschiedlich: als Stiefvater, wenn es um offizielle Dinge geht, und als Vater, wenn wir beispielsweise irgendwo anstehen oder in einem Lokal bestellen.

Ist das nicht komisch?

Keineswegs! Wir sind einerseits offener geworden für Familienstrukturen, andererseits wollen wir nicht jeden mit unserer privaten Situation behelligen und nehmen uns das Recht heraus, ungenau zu sein und Details für uns zu behalten.

Sie sind Linguist, welchen Begriff würden Sie vorschlagen?

Ich würde für "Patchwork-Mama" plädieren. Nicht nur als Experte, auch als Patchwork-Papa. Der Begriff zeigt auf positive Weise, wie sich Familie entwickelt hat. Als Sprachwissenschaftler würde ich es damit begründen, dass das Bild des Flickenteppichs perfekt passt. So ein Flickenteppich bleibt wandelbar, er kann verändert werden, man kann etwas rausnehmen oder einfügen. Er besteht aus Familienmitgliedern, die alle ihre eigene Geschichte mitbringen. Die mit ihren ausgefransten Kanten zu einem Ganzen zusammengefügt werden, das am Ende ein Bild ergibt. Ein überaus positives Bild.

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