Es könnte doch so perfekt sein: Frisch gewaschene und gebügelte Kinder in bester Betreuung, ein verständnisvoller emanzipierter Mann und eine Frau, die in ihrem Beruf aufgeht. Dank Quotendebatte sogar mit Aussicht auf die Führungsebene. Und dann dies: Anpassungsstörungen, depressive Störungen, überall Störungen. Diagnose Störung für die sogenannte moderne Mutter.
Mütter sind heute öfter erschöpft und krank, als sie es noch vor zehn Jahren waren. Um mehr als 30 Prozent hat sich die Zahl der Frauen erhöht, die Symptome zeigen, die man heutzutage unter Burn-out oder akuten Belastungsreaktionen verbucht. "Das Rollenbild der Frau hat sich stark verändert, aber die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht", sagt Anne Schilling, die einen Reparaturbetrieb für diese neue Spezies Frau leitet, ihre Firma trägt einen schön altmodischen Namen: Müttergenesungswerk.
Vor gut 60 Jahren begann man im Müttergenesungswerk (MGW) damit, Frauen an Leib und Seele zu kurieren, heutzutage scheinen die Therapien dringender denn je zu sein - nur hat man für sie inzwischen den Begriff "ganzheitlich" gefunden. Frau Schilling bezeichnet ihr Werk denn auch als "Spiegel der Gesellschaft". Denn es lässt sich verblüffend einfach anhand der Kur-Indikationen verfolgen, wie sich über die Jahrzehnte das Krankheitsbild Hand in Hand mit dem Rollenbild und der Beanspruchung der Frau verändert hat.
Lücke zwischen gesellschaftlicher Wahrnehmung und Realität
Die der grenzenlosen Frauensolidarität unverdächtige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat unlängst eine Untersuchung vorgestellt, die die neuen Belastungen von Müttern deutlich herausstellt. Demnach kümmern sich sogar berufstätige Frauen, die in Vollzeit arbeiten, weitgehend alleine um Kinder und Wohnung. Der Monitor Familienleben, den das Allensbach Institut zum fünften Mal für das Bundesministerium erstellt hat, zeigt eine große Lücke zwischen gesellschaftlicher Wahrnehmung und Realität. So sind zwar 69 Prozent der Deutschen der Meinung, dass Väter sich mehr als früher an der Kindeserziehung beteiligen - mit dem Zusatz, dass sie das eigentlich auch gut finden. Demgegenüber steht jedoch das Umfrageergebnis bei den Müttern: 70 Prozent antworteten, dass sie die Arbeit zu Hause überwiegend alleine schultern.
Beim Müttergenesungswerk überrascht diese Analyse nicht. "Zu uns kommen jetzt ganz stark auch Frauen mit höherem Haushaltseinkommen. Die Belastungen, die Mütter heute im Alltag erleben, sind überall in der Gesellschaft angekommen", sagt Schilling. Am häufigsten fühlten sich Frauen durch ständigen Zeitdruck gestresst. Die Zahl der Mütter, die mangelnde Anerkennung in der Leistungsgesellschaft als belastend empfinden, habe sich in den MGW-Statistiken verdoppelt. 2,1 Millionen Mütter seien kurbedürftig, so die Berechnungen. "Der kontinuierliche Anstieg von Alleinerziehenden, das ständige Austarieren zwischen Familie und Beruf und ein enormer Perfektionsanspruch fügen sich zu einem kritischen Konglomerat zusammen", so Schilling - und unternimmt eine kleine Tour de Force durch die Jahrzehnte ihres Kurbetriebs.
Liest man Berichte darüber, wie es deutschen Müttern kurz nach Kriegsende, in den Gründungsjahren des in Berlin ansässigen Müttergenesungswerkes ging, mag es einem das Herz zerreißen. Zustandsbeschreibungen aus einem Mütterheim, in urtümlicher Schreibmaschinenschrift verfasst, über Frau G. S. aus Bad Höhenstadt: "Flüchtling aus Breslau, 2 Kinder, 7 und 11 Jahre, Mann schwer kriegsversehrt (hirnverletzt), wohnt in einem kleinen Zimmer, nebenbei noch Papierwarenverkauf, um durchzukommen, 1 Kind hat Tbc. Frau S. ist herzleidend und ganz erschöpft. Sie hat keinen Mut mehr zum Leben." Oder über Frau Hanna K., 36 Jahre alt: "Flüchtling, Mann Autoschlosser, vermisst, Näherin, 2 Kinder (7 und 8 Jahre). Frau K. war 3 Monate im Krankenhaus wegen Nervenzusammenbruchs. Durch starkes Zittern der Hände war sie nicht mehr arbeitsfähig."
Von Entbehrungen gezeichnete, untergewichtige, von Kriegsgewalt traumatisierte Frauen waren also die ersten Patientinnen des Werkes, das Elly Heuss-Knapp, die Frau des ersten Bundespräsidenten, 1950 gegründet hat.
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stellte man sich in den Heimen neu auf die sich verändernden Bedürfnisse der Frauen ein. So gab es in den 1960er Jahren spezielle Angebote für Mütter mit Contergan-geschädigten Kindern. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre dann wurden die ersten Mutter-Kind-Häuser eingerichtet. "Es gab große Diskussionen. Denn die Beziehungen der Mütter zu den Kindern hatten sich gesellschaftlich verändert. In den 1950er Jahren liefen die Kinder einfach so mit im Alltag. Nach und nach aber nahm man ihre Psyche stärker wahr, sie wurden zu Persönlichkeiten - und die Mütter nahmen ihren Arbeitsplatz mit in die Kur", beschreibt Schilling die Entwicklung.
Erst etwa 20 Jahre später in der Chronologie taucht übrigens die verschärfte Variante der Sorge um die Kinder auf - der wachsende gesellschaftliche Anspruch, seine Kinder perfekt fördern zu müssen. Musik, Sport, Super-Ausbildung - "das fällt heutzutage immer auf die Frauen zurück, die das organisieren müssen", sagt Schilling. So geben auch in Bundesministerin Schröders aktuellem Familienmonitor 38 Prozent der Mütter an, intensiv damit beschäftigt zu sein, ihre Kinder zu Freizeitaktivitäten zu fahren - und sie von dort wieder abzuholen.
Doch zurück in die 1990er Jahre: Damals waren die Baustellen im Reparaturbetrieb MGW noch übersichtlich. "Es stand der Erholungseffekt im Vordergrund, die Frauen waren hauptsächlich überarbeitet. Aber die Ansprüche, perfekt funktionieren zu müssen, waren noch nicht so hoch wie heute", sagt Angela Finkenberger. Sie leitet seit gut 20 Jahren am Fuße der Kampenwand in Aschau im Chiemgau die Klinik Sonnenbichl, die sich auf Mütter und Kinder mit psychosomatischen Gesundheitsstörungen spezialisiert hat. In den vergangenen zehn Jahren habe sich alles zugespitzt, weiß sie aus der Praxis-Erfahrung. Sie berichtet von Akademikerinnen, die mitten im Leben standen, alles irgendwie wuppten, aber trotzdem fix und fertig in die Klinik kamen und fragten: "Was stimmt nicht mit mir? Warum wird mir alles zu viel? Warum funktioniere ich nicht?"
Alles scheint komplizierter geworden zu sein
Liest man die Protokolle, die heutzutage beim MGW verfasst werden, wirken sie erst mal glatter, simpler als jene aus den 1950er Jahren - was vielleicht auch an der schnörkellosen Computerschrift liegt. Etwa über Frau K., 41 Jahre alt: "Integrationserzieherin, Kind 12 Jahre, alleinerziehend. Tochter hat Morbus Crohn, Asthma, 35 Stunden berufstätig, beide Eltern verstorben." Oder über Frau H., 46 Jahre: "Logopädin, 2 Kinder, 12 und 15 Jahre, geschieden, alleinerziehend, hohe berufliche Anforderung und Kindererziehung, Pubertät!"
In Wahrheit aber scheint alles komplizierter geworden zu sein. "Kinder, Beruf, Partnerschaft, Finanzen, Schule, Pflege - es sind viele zusätzliche Aufgaben für die Frau dazugekommen. Aber sie fühlt sich zuständig wie früher aufgrund eines tiefverankerten, klassischen Frauenbildes, das auch das Weiche, Fürsorgliche beinhaltet", sagt Angela Finkenberger. Die Frauen, die für dreiwöchige Kuren hierher mit ihren Kindern in den Chiemgau kommen, stünden permanent mit sich selbst im Konflikt.
Kollegin Edelgard Will, die in dem Haus für die psychosoziale Therapie sorgt, beschreibt das Dilemma so, dass die Mütter heutzutage tough im Job sein müssten, aber sich schwer dabei täten, "die Balance zu ihrem weiblichen Element" zu finden. Dann denkt die Sozialtherapeutin, die eine schöne lange graue Lockenmähne trägt und die vergangenen Jahrzehnte sicher recht frauenbewegt verbracht hat, sehr lange nach, bevor sie sagt: "Wir erleben die Früchte der Emanzipation. Aber das alles läuft hier gerade gewaltig aus dem Ruder."
Mit den Neuerungen der Gesellschaft scheint es so eine Sache zu sein. Etwa mit den unzähligen Ratgebern, die es zu jeder Lebenslage gibt. Work-Life-Balance, Zeitmanagement für Mütter - es gibt kein Problem, das nicht groß genug aufgeblasen werden kann, um zum gewichtigen Nachschlagewerk zu werden. "Gerade gebildetere Frauen verzweifeln da. Sie haben alles im Kopf, aber keine Strategie, wie sie das umsetzen können", berichtet Frau Will.
Als Elly Heuss-Knapp im Jahr 1951 bei den Ortskrankenkassen dafür warb, diese Kuren zu finanzieren, griff sie dem Rollenkonflikt und der heutigen Debatte über die korrekte Form der Kindererziehung weitsichtig vor. Sie sagte: "Bisher ziehen es die deutschen Mütter vor, den ganzen Tag und bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten, die Wäsche zu waschen, Kinderkleider zu flicken und vorzukochen, statt ihre Kinder in Sondereinrichtungen zu geben. Die Gefahr besteht in der Überanstrengung der Mütter."
Heute können die Mütter, wenn sie es möchten, einen Teil des Lebens leichter gestalten - mit Waschmaschinen, günstiger Kinderkleidung und Tiefkühlkost. Ein anderer Teil steht aber offensichtlich allein auf weiter Flur. So gibt es das erforschte Phänomen, dass Frauen, sobald das erste Kind kommt, aus unterschiedlichen Gründen in das alte Rollenbild zurückfallen. Obwohl sie sich mit ihrem Partner zuvor Arbeitsteilung, etwa im Haushalt, gelobt hatten.
Seltsame Bewilligungspraxis der Krankenkassen
Anne Schilling vom Müttergenesungswerk sagt: "Da wird ein traditionelles Muster gelebt, das mit den Anforderungen von heute, der Doppelbelastung durch den Beruf, nicht mehr funktioniert." Ihr Rat an die Frauen lautet schlicht, öfter Nein zu sagen, sich nicht für alles verantwortlich zu fühlen. Hört sich bekannt an. Trotzdem checken immer mehr Frauen weit über den Rand des Nervenzusammenbruchs in den Kliniken ein. Vorausgesetzt, sie bekommen die Kur überhaupt genehmigt.
Dass da heute etwas nicht zusammenpasst in der Gesellschaft, zeigt sehr klar ein Bericht des Bundesrechnungshofs an den Haushaltsausschuss des Bundestags aus dem Jahr 2011, in dem es um die Bewilligungspraxis der Krankenkassen bei Mutter-Kind-Kuren geht. Ein Fallbeispiel geht so: Eine Versicherte machte Überlastung durch ihre Rolle als Mutter, Berufstätige und Hausfrau geltend. Außerdem sei sie demnächst arbeitslos. Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung stellt hierzu fest, eine außergewöhnliche psychosoziale Belastung als Ehefrau und Mutter bestehe nicht. Außerdem: "Es kommt hinzu, dass die Doppelbelastung durch ihre eigene Berufstätigkeit ab Januar entfällt. Natürlich treten an die Stelle der Doppelbelastung dann Existenzängste, wenn nur noch ein Einkommen den Unterhalt der Familie sicherstellen muss - was allerdings ebenfalls eher die Regelsituation darstellt."