Lawinen:"Krieg in den Bergen"

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Immer öfter lösen Wintersportler abseits der Skipisten Lawinen aus und bringen damit sich und andere in Lebensgefahr. Die Retter fordern nun Konsequenzen für unvorsichtige Tiefschneefahrer.

Titus Arnu

Am Gaislachkogel bei Sölden herrschen scheinbar beste Bedingungen. Die Sonne scheint, auf einer hart gefrorenen Schicht aus Altschnee liegt feiner Pulver. Unterhalb der Bergstation der Gondelbahn führen einige Spuren in den Steilhang. Drei Snowboarder kurven fröhlich zwischen den Felsen herum, abseits der markierten Piste.

"Da tickt die Uhr, alle sind unglaublich nervös": Bergrettungsmannschaften suchen auf der Zugspitze nach Verschütteten (Archivbild). (Foto: Foto: dpa)

Von der Gondelbahn aus beobachtet ein Skifahrer die Szene - und hält zufällig mit seiner Kamera fest, wie einer der Snowboarder ein Schneebrett lostritt. Der Jugendliche wird verschüttet, nur sein Kopf und die Schulter schauen noch heraus. Die Schneeschicht um ihn herum ist wie Beton, er kann sich nicht mehr bewegen. Seine beiden Begleiter bleiben schockiert stehen, rufen und winken - und lösen so die eigentliche Katastrophe aus.

Der gesamte Hang bricht plötzlich ab, alle drei werden unter einem riesigen Schneebrett begraben. Obwohl die Bergrettung sehr schnell vor Ort ist und alle Verschütteten innerhalb von 15 Minuten ausgraben kann, kommt einer der jungen Wintersportler ums Leben.

"Ein typischer Fall", sagt Hermann Köhle, als Landesarzt verantwortlich für den medizinischen Bereich der Bergrettung Tirol. Es kommt selten vor, dass die Entstehung eines Lawinenunglücks so gut dokumentiert ist, und Köhle benutzt die Bilder vom Gaislachkogel oft bei Vorträgen, um zu zeigen, was zu solchen Tragödien führt.

Er war schon bei vielen Lawineneinsätzen als Notarzt dabei, und meistens sind es die gleichen Faktoren, die zum Tod von Wintersportlern führen. Etwa 80 Prozent der Unfälle mit tödlichem Ausgang passieren bei der Lawinenwarnstufe 3 ("erhebliche Gefahr") an Nordhängen, die steiler sind als 35 Grad - genau solche Bedingungen wie bei dem Unglück am Gaislachkogel.

Dazu kommt, dass sich immer mehr Skifahrer und Snowboarder trotz aller Warnhinweise abseits der Pisten bewegen. Freeriden und Tourengehen sind im Trend, Gebiete wie der Gaislachkogel im Ötztal sind für verlockende Varianten bekannt. Bei optimalen Wetter- und Schneeverhältnissen ist gegen das Tiefschneefahren kaum etwas einzuwenden.

Das Problem ist nur, dass viele Leute die Grundregeln des Geländefahrens nicht kennen oder sie missachten. Etwa 100 Menschen sterben Jahr für Jahr in den Alpen in Lawinen. Die Zahl der Leute, die auf Straßen oder in Orten verschüttet werden, sinkt, die Zahl der Sportunfälle steigt. "Es herrscht regelrecht Krieg in den Bergen," sagt Hermann Köhle, der ein Zentrum für ambulante Chirurgie mit Filialien in Imst, Sölden und Längenfeld betreibt.

Kaum ein Drittel der Verschütteten überlebt

Köhle hat 70 Lawineneinsätze als Notarzt miterlebt, dabei seien die Retter riesigem Stress ausgesetzt, berichtet er: "Da tickt die Uhr, alle sind unglaublich nervös." Im Falle eines Alarms im hinteren Ötztal starten Notarzt und Bergretter mit dem Helikopter von ihrem Stützpunkt der Bergrettung zwischen Sölden und Obergurgl; in ganz Österreich sind 35 Rettungshubschrauber stationiert. Innerhalb von 15 Minuten müssen die Retter die Verschütteten geortet und ausgegraben haben - danach sinken die Überlebenschancen gegen Null.

Wer einmal von einer Lawinen erfasst wird, hat kaum eine Chance, heil herauszukommen. Kaum ein Drittel der komplett Verschütteten überlebt. Die Opfer werden, oft zunächst noch lebendig, von den Schneemassen regelrecht einbetoniert. In großen Nasschneelawinen kann der Druck 50 Tonnen pro Quadratmeter erreichen. Wer nicht sofort an seinen Verletzungen stirbt, erstickt langsam und qualvoll. Menschen, die aus einer Lawine gerettet wurden, leiden oft jahrelang unter traumatischen Störungen - das Gefühl, in einem kalten Grab gefangen zu sein und keinen Finger rühren zu können, raubt ihnen den Schlaf.

Die Bergretter haben gute Karten, wenn sie die Opfer innerhalb einer Viertelstunde finden. Das Ausgraben eines Menschen, der einen Meter tief in der Lawine liegt, dauert 12 bis 15 Minuten, liegt er drei Meter tief, dauert es schon 40 Minuten. Wenn es überhaupt möglich ist, am Unglücksort sicher zu arbeiten. Der Einsatzleiter muss vor Ort blitzschnell entscheiden, ob die Helfer überhaupt aussteigen und mit ihrer Arbeit beginnen können - denn die Bergretter setzen sich in Lawinenhängen oft der Gefahr aus, ebenfalls verschüttet zu werden.

Ende Dezember des vergangenen Jahres kamen am Pordoijoch in den Dolomiten vier Bergretter in einer Lawine ums Leben, die nach zwei vermissten Touristen gesucht hatten. Ein ähnlicher Fall ereignete sich im Januar im Berner Oberland, dort wurde eine Gruppe von zwölf Menschen von einer Zweitlawine getroffen, während sie nach einem Verschütteten suchten, sieben Personen starben, unter ihnen ein Rettungsarzt.

Geldstrafe für Tiefschneefahrer

In Italien könnten unvorsichtige Wintersportler in Zukunft stärker zur Verantwortung gezogen werden. Das Parlament in Rom diskutierte kürzlich über eine Gesetzesverschärfung, nach der für Tiefschneefahren in gesperrtem Gelände bis zu 5000 Euro Geldstrafe vorgesehen sind. Personen, die eine Lawine auslösen, droht sogar das Gefängnis. Trotz der hohen Zahl an Lawinenopfern sieht Österreichs Sportminister Norbert Darabos derzeit keinen Grund, leichtsinnige Skifahrer und Snowboarder schärfer zu bestrafen. Auch der Deutsche Alpenverein setzt auf die Eigenverantwortlichkeit der Wintersportler - es brauche nicht noch mehr Reglementierungen in einem Bereich, in dem es eigentlich um Freiheit und ungestörte Naturerlebnisse geht.

Doch oft lassen sich auch erfahrene Skifahrer durch die Aussicht auf eine Pulver-Abfahrt in riskante Hänge locken. Spuren im Tiefschnee aber bedeuten keine Entwarnung. Bei einem Lawinenunglück vor wenigen Tagen im Kleinwalsertal etwa war es der vierte Snowboarder, der die Lawine auslöste - seine drei Begleiter hatten den Hang problemlos passiert. "Uns Menschen fehlt im Schnee ein Warninstinkt für kritische Situationen", sagt Hermann Köhle, "Gämsen etwa wissen genau, dass sie heikle Stellen nur einzeln und vorsichtig betreten sollten." Menschen dagegen rotten sich gern zusammen, ein oft folgenschwerer Fehler. Je mehr Tourengeher auf engem Raum, desto größer ist die Belastung für die Schneedecke.

"Lawinengefahr ist Lebensgefahr. Selbst wenn man perfekt ausgerüstet ist: Ein tödliches Restrisiko bleibt immer," warnt der Leiter der Lawinenwarnzentrale im Bayerischen Landesamt für Umwelt, Bernhard Zenke. Es gehe eben darum, dieses Risiko möglichst klein zu halten. Wer aber bei Warnstufe 3 und Wind in einen steilen Nordhang fährt wie die drei Snowboarder am Gaislachkogel, der fordert den Tod heraus. "Wenn man mit seinem Leben spielen will, ist Russisches Roulette weniger gefährlich", sagt der Schweizer Lawinenforscher Werner Munter. Bei der Pistole liegt die Wahrscheinlichkeit, zu überleben, bei 5:1. Im Lawinenhang ist die Quote genau umgekehrt.

© SZ vom 20.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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